Süddeutsche Zeitung

Europäische Flüchtlingspolitik:Eine gemeinsame Lösung ist nicht in Sicht

  • Wie eine "europäische Lösung" in der Flüchtlingspolitik aussehen könnte, darüber herrscht in Europa Ratlosigkeit.
  • Es gibt zahlreiche Vorschläge, doch ob die europaweit durchsetzbar sind, ist unklar.
  • Süd-, Mittel- und Osteuropäer haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Verteilung der Flüchtlinge aussehen soll.

Von Thomas Kirchner

Wenn man nur ein Wort hätte, um die Stimmung in Brüssel im wieder aufflammenden Streit über die Flüchtlingspolitik zu beschreiben, dann würde es lauten: Ratlosigkeit. Niemand weiß, wie die "europäische Lösung" aussehen könnte, die in Berlin so hartnäckig beschworen wird. Oder genauer: Niemand weiß, wie eine europäische Lösung, die diesen Namen verdient, angesichts der völlig verhärteten Fronten durchgesetzt werden könnte.

Und niemand weiß einen guten Rat, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Lage aus ihren innenpolitischen Kalamitäten wieder herausfinden könnte. Der Diskurs ist auch deshalb verwirrend, weil offenbar Brüssel nicht weiß, was Berlin plant, und umgekehrt. Es werden nur Brocken von Informationen in die Luft geworfen, die zusammen kein stimmiges Bild ergeben.

Italiens Ministerpräsident Conte warb für mehr Solidarität

Das betrifft zunächst die Frage, was denn in den bilateralen Rückführungsabkommen stehen könnte, um die sich Merkel bis zum Ende des EU-Gipfels am 28. und 29. Juni mit Nachbar- und Außengrenzstaaten bemühen will. Diese Abkommen sind laut der Kanzlerin nötig, damit Deutschland, wie von der CSU gefordert, Asylbewerber, die schon anderswo einen Antrag gestellt haben, an der Grenze zurückweisen könnte. Merkel will das bekanntlich in Absprache mit den hauptbetroffenen Ländern lösen.

Nicht klar ist, wer genau zurückgewiesen werden soll. Die Gruppe jener, die schon einen Asylantrag gestellt haben, ist deutlich kleiner als die jener, die schon in einem anderen Staat registriert wurden. Für all jene, die bereits etwa nach Italien oder Griechenland abgeschoben wurden, soll es von sofort an eine Wiedereinreisesperre geben. Am Montagabend empfing Merkel Italiens Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Dieser warb in Berlin für mehr Solidarität der EU-Staaten bei der Verteilung von Flüchtlingen in Europa.Die Europäische Union müsse ihre Perspektive ändern, sagte Conte: "Die italienischen Grenzen sind europäische Grenzen."

Gegenleistungen für Italien könnten teuer werden

An diesem Dienstag erwartet Merkel Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron in Meseberg. Nach Ansicht von EU-Diplomaten könnte in den Abkommen geregelt werden, wie mit den sogenannten Rücküberstellungen mit Blick auf Prozedere und Zeiten künftig zu verfahren wäre. Bisher beträgt die Frist sechs Monate (bis zu 18 Monate, falls sich der Asylbewerber dem Verfahren entzieht). Und nur maximal drei Monate hat ein Staat, um ein anderes Land von der beabsichtigten Rücküberstellung in Kenntnis zu setzen.

Werden die Fristen nicht eingehalten, geht die Verantwortung für das Asylverfahren auf den Mitgliedstaat über, der die Fristen verpasst hat. Das passiert oft. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, diese Fristen komplett abzuschaffen, sodass die Verantwortung beim einmal festgestellten Mitgliedstaat bleibt. Allerdings wird etwa Italien natürlich eine Gegenleistung wollen, wenn es leichteren Rücküberstellungen zustimmt. "Was kann Deutschland da bieten?", fragt ein EU-Diplomat. Das könnte teuer werden.

Am Nachmittag wird EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Meseberg dazustoßen. Er soll darüber wachen, dass die vereinbarte Lösung möglichst EU-kompatibel ist. Seine Behörde ist in eine heikle Position geraten. Denn als Hüterin alles Europäischen sieht sie zwischenstaatliche Deals skeptisch, hat sich aber offenbar damit abgefunden; schließlich geht es um das mächtigste Mitgliedsland. Und Merkels Mantra, dass sie nicht unilateral, unabgestimmt und zulasten Dritter in der EU handeln werde, muss der Kommission besser gefallen als der Ansatz jedes denkbaren Nachfolgers in Berlin.

Gleichzeitig ist der Kommission klar, dass das, was nun zur Befriedung in Berlin ausgehandelt werden kann, von einer echten Lösung in ihrem Sinne so weit entfernt ist wie München von Brüssel. In der EU wird über viel mehr verhandelt: Stärkung der Außengrenzen, Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsstaaten, Umsiedlung von Flüchtlingen direkt aus den Krisengebieten. Dazu ein Strauß von sieben Gesetzen, die ein effizienteres gemeinsames Asylsystem schaffen sollen. So würden einheitliche Aufnahmebedingungen mit dem Prinzip Sach- statt Geldleistung verhindern, dass Bewerber sich das für sie günstigste Land aussuchen.

Die Europäer sind sich uneins

Hinzu kommen schnellere Asylverfahren und Transfers und schärfere Strafen bei Missbrauch: Wer in einem anderen als dem ihm zugewiesenen Land angetroffen wird, muss wieder von vorn anfangen auf dem Weg zu einem regulären Aufenthaltsstatus. Das alles ist weitgehend unumstritten, kann aber nur im Paket mit der Dublin-Reform verabschiedet werden. Hier ist keinerlei Einigung in Sicht, mit der die Lasten gerechter verteilt werden könnten.

Die Südländer fordern eine Pflicht zur automatischen Umverteilung von Flüchtlingen, Mittel- und Osteuropäer lehnen jeglichen Zwang ab, und die Gruppe um Deutschland schart sich hinter der Idee, sich weitgehend, aber nicht ganz von der Aufnahme von Flüchtlingen freikaufen zu können. Juncker wie EU-Ratspräsident Donald Tusk wollen nun durch Europa touren, mit allen reden.

Die Flüchtlingszahlen gehen zurück

EU-Kreise versuchen verzweifelt, den Druck aus dem von Berlin befeuerten Kessel zu nehmen. Es wird gewarnt, "die Erwartungen an den Gipfel so hochzuschrauben, dass man hinterher enttäuscht ist".

Der Druck steigt also mächtig. Und das, obwohl er gesunken ist. Nach neuen Zahlen der Asylagentur Easo wurden 2017 in der EU fast 730 000 Asylanträge gestellt, 44 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Im ersten Quartal 2018 gehen die Zahlen weiter zurück. Auch die Zahl der Ankommenden an den Außengrenzen ist - mit Ausnahme des westlichen Mittelmeers - erheblich gesunken. Die Kommission jubelt: Die Zahlen seien sogar niedriger als in der Zeit vor der Krise.

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SZ vom 19.06.2018
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