Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik:Der Streit zwischen Merkel und Seehofer gefährdet die Regierung

Der geheuchelte Waffenstillstand zwischen Kanzlerin und Innenminister könnte am Zoff um die Zurückweisung von Flüchtlingen zerbrechen. Und das alles, weil der CSU-Chef schon an die Wahl in Bayern denkt.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Als Anne Will am Sonntagabend von Angela Merkel wissen wollte, ob sie es schon bereut habe, 2017 ein viertes Mal als Kanzlerkandidatin angetreten zu sein, erhielten die Moderatorin und das Fernsehpublikum eine bemerkenswerte Antwort: Sie habe gar keine Zeit für solche Gedanken, sagte Merkel. Bisher hat sie diese oft gestellte Frage entschlossener verneint. Normalerweise beteuert sie an dieser Stelle, mit einer Entscheidung, die sie gründlich überlegt habe, hinterher nicht zu hadern. Nun steht zumindest die Möglichkeit eines Zweifels im Raum, wenn Merkel irgendwann mal Zeit dafür hat.

Wen wundert's? Die vierte Amtszeit verläuft für die Kanzlerin bislang - um es mit einem ihrer Lieblingsworte zu sagen - disruptiv. Althergebrachtes wird durch völlig Neues verdrängt. Am offensichtlichsten ist das in der Außenpolitik, durch Donald Trumps mutwillige Zerstörung des Westens. Auch die Europäische Union wird nicht bleiben, wie sie war. Nur innenpolitisch ist wohl nichts althergebrachter als das, was Merkel nun dieselben Probleme bereitet wie in den vergangenen Jahren: Horst Seehofer hat die Auseinandersetzung um die Flüchtlingspolitik wieder in die Bundesregierung hineingetragen. Die disruptive Wirkung dieses Streits aber kann gewaltig sein. Mit dem neuesten Zoff zwischen Kanzlerin und Innenminister steht nicht nur der mühsam zusammengekleisterte Friede in der Union auf dem Spiel. Es geht auch um den Bestand der noch jungen alten Regierung.

Mit seinem "Masterplan" zur Asyl-Politik und den Forderungen, die über die bisherige gemeinsame Position der Union hinausgehen, stellt Seehofer nichts anderes als die Machtfrage. Dazu passt auch, dass er die Teilnahme an Merkels Integrationsgipfel abgesagt hat. Es geht Seehofer als Innenminister darum, zu beweisen, wer bei diesem Thema das Sagen hat. Als CSU-Chef will er rechtzeitig vor der Wahl in Bayern einen sichtbaren Schlussstrich unter die Flüchtlingspolitik Merkels ziehen. Und als ewiger Rivale Merkels in gesellschaftlichen Grundsatzfragen will er vor allem recht behalten. Das ganze Arrangement von CDU und CSU in der Wiederauflage der großen Koalition war von Anfang an verlogen. Schon im Wahlkampf hatten sich Merkel und Seehofer nur zum Zwecke des Machterhalts auf einen geheuchelten Waffenstillstand verständigt, der im Festzelt zu Trudering mit Bier begossen wurde.

Der neue Streit war nur eine Frage der Zeit

Für die schlechten Ergebnisse beider Parteien bei der Bundestagswahl gaben sie sich dann gegenseitig die Schuld. In der Wiederauflage der großen Koalition wurde Seehofer dann ausgerechnet Innenminister. Damit war der Streit programmiert. Und seine Eskalation seit Wochen absehbar. Mit den Missständen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), deren Skandalisierung der Faktenlage frühzeitig enteilt war, haben die Gegner von Merkels Politik seit 2015 einen Anlass zur Abrechnung erhalten. Und nach dem schrecklichen Mord an einer jungen Frau durch einen nicht abgeschobenen Asylbewerber sieht mindestens die CSU nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch eine gesellschaftliche und nicht zuletzt mediale Stimmung, die es erleichtert, bisherige Positionen Merkels zu schleifen.

Die Frage der Zurückweisungen an der Grenze, die Seehofer und Merkel nun trennt, war schon im Oktober 2017 viel heftiger umstritten als die Obergrenze von 200 000 Zuwanderern pro Jahr. Stundenlang zerrten und zogen Merkel und Seehofer damals an diesem Punkt. Am Ende war im gemeinsamen Unions-Papier zur Asyl- und Zuwanderungspolitik von Zurückweisungen keine Rede. Vielmehr sollen die zentralen Aufnahmezentren, in denen die Verfahren möglichst zügig abgewickelt werden und die mittlerweile auch Teil des Koalitionsvertrages mit der SPD geworden sind, genau eine solche Verweigerung der Einreise unnötig machen. Mit der Forderung, in anderen Staaten bereits registrierte Asylbewerber nun trotzdem schon an der Grenze abzuweisen, widerspricht Seehofer mithin Sinn und Zweck der von ihm durchgesetzten Aufnahmezentren.

Er spricht quasi seiner eigenen Idee das Misstrauen aus. Sie trage die politische Verantwortung für die Flüchtlingspolitik, hat Merkel am Sonntag im Fernsehen gesagt. Das klang wie eine Binse, selbstverständlich und folgenlos. Aber das ist es nicht. Merkel trägt die Verantwortung für den Geist einer Flüchtlingspolitik, die darauf setzt, dieses Problem humanitär und im europäischen Verbund zu lösen. 2015 bestand der größte Fehler der Kanzlerin darin, andere, überwiegend osteuropäische Staaten zur Solidarität zwingen zu wollen. Das war vor allem auch deshalb falsch, weil man ihr dort schon aus politischer Opportunität lieber dieses Verhalten nachtragen und das Feindbild Merkel pflegen wird, anstatt ihr Verdienst anzuerkennen, Europa dazu gebracht zu haben, sich endlich dem Problem der Flüchtlingsströme zu stellen. Wenn nun aber auch Merkels eigene Leute sie zurück zum Egoismus von vor 2015 zwingen wollen, dann kann die Verantwortung der Kanzlerin auch in vier Worten bestehen: nicht mehr mit mir.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4010838
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.06.2018/jsa
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.