Flüchtlingspolitik:Der Aylan-Effekt in Kanada

Familie Kurdi bei der Ankunft in Vancouver Ende vergangenen Jahres.

"Wenn sie den Terminal verlassen, sind sie dauerhafte Einwohner Kanadas": Familie Kurdi bei der Ankunft in Vancouver Ende vergangenen Jahres.

(Foto: Darryl Dyck/AP)
  • Das Foto des toten kleinen Aylan aus Syrien hat Kanadas Wahlkampf 2015 beeinflusst und die Einwanderungspolitik verändert.
  • Fast 33 000 syrische Flüchtlinge hat Kanada in den vergangenen elf Monaten aufgenommen; es sollen noch mehr werden.
  • Die Regierung verlässt sich bei ihrer Intergration allerdings auch auf private Hilfsprogramme.

Von Frank Nienhuysen

Die Berufsträume sind schon mal klar, Tochter Heveen will Zahnärztin werden, Sohn Shergo Polizist. Mohammed Kurdi dankt Kanada, dass er das erleben darf. Das Heranwachsen der Kinder in einem freien Land, ein sicheres Zuhause, ein Leben ohne Bomben, ohne Krieg.

Sein Neffe Aylan Kurdi hat es nicht geschafft. Er lag tot an einem türkischen Strand, ein drei Jahre altes Kind. Aylan war mit seiner Familie in der Türkei in ein Schlepperboot gestiegen. Griechenland war ihr erstes Ziel, Kanada ihr eigentliches. Dort lebt eine Verwandte, die sich um sie kümmern wollte. Aber im hohen Wellengang kenterte das überladene Boot, nur der Vater überlebte. Das Foto des toten kleinen Aylan aus Syrien ging als erschütterndes Symbol durch Europa und um die Welt. Es erreichte natürlich auch Kanada. Und es hat Kanada verändert.

Ein Jahr ist das nun her, dass die Familientragödie der Kurdis in den kanadischen Wahlkampf drang. Wenige Wochen später scheiterte der konservative Premier Stephen Harper samt seiner harten Flüchtlingspolitik, und der Liberale Justin Trudeau übernahm. Er hatte versprochen, mehrere Zehntausend syrische Flüchtlinge im Land aufzunehmen, und genau das wollten die Kanadier von ihm hören.

Fast 33 000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland hat Kanada in den vergangenen elf Monaten aufgenommen, aber geplant ist, die Zahl noch weiter zu erhöhen. Das kann man wenig nennen im Vergleich zu Deutschland, Italien, Griechenland, der Türkei, aber bemerkenswert etwa im Vergleich zu Großbritannien oder jenen anderen Staaten der Europäischen Union, die von einer Aufnahmequote für Flüchtlinge nichts wissen wollen.

Ein Bekenntnis zur eigenen Geschichte als Einwanderungsland

Aylans Onkel Mohammed Kurdi kam Ende Oktober vorigen Jahres mit einer Maschine aus Frankfurt in Vancouver an. Er landete in einem aufgerüttelten Kanada, das sich nun wieder seiner Tradition als Einwanderungsland erinnert. Noch ist sein Englisch nicht gut genug, dass er sich ein Interview am Telefon zutraut. Er antwortet der SZ per E-Mail, lässt seine Schwester ins Englische übersetzen, jene Tima Kurdi, die an der fernen Pazifikküste lebt und von Anfang an das Ziel der Flüchtlingsfamilie aus Syrien gewesen war.

Mohammed Kurdi erzählt, "Freunde und Nachbarn haben von Beginn an ihr Herz gegeben, um uns zu begrüßen. Einige kommen zweimal die Woche, um uns Englisch beizubringen, andere kümmern sich um Bürokratisches, Gesundheitskarten, Arztbesuche, um eine Schule für die Kinder, um Unterricht für mich und meine Frau." Im Gegenzug schneidet der gelernte Friseur Nachbarskindern die Haare. Bis der neue Salon seiner Schwester so gut läuft, dass sie ihn einstellen kann. Aber er weiß schon jetzt: "Kanada ist meine neue Heimat." Und Syrien? Würde er jemals zurückgehen, sollte der Krieg einmal zu Ende gehen? Er schreibt, "Unser Land ist zerstört, und es würde viele Jahre dauern, es wieder aufzubauen." Es ist wohl ein Nein.

Als US-Präsident Barack Obama vor einigen Wochen bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen auftrat, schickte er zwei Lobeshymnen zur Flüchtlingspolitik in die Welt: eine für Kanzlerin Angela Merkel, die zweite für die kanadische Regierung. Beide hätten alle Erwartungen übertroffen, sagte Obama. Wenngleich sein Lob für Kanada zugleich auch als Spitze gegen Donald Trump gedeutet werden kann, der Muslime am liebsten gar nicht ins Land lassen will.

Ab und zu flackern Ressentiments auf

Regierungschef Trudeau hat sich ins Parlament gestellt und sich öffentlich dafür entschuldigt, dass sein Land vor mehr als hundert Jahren einmal ein Flüchtlingsschiff aus Hongkong abgewiesen hat. Lange her, aber doch auch ein Zeichen, dass Kanada sich wieder stärker dazu bekennt, ein Einwanderungsland zu sein.

Der Premier selber war am Flughafen, als im vergangenen Jahr die ersten Syrer in Toronto eintrafen. "Sie gehen aus dem Flugzeug als Flüchtlinge raus", sagte er, "aber wenn sie den Terminal verlassen, sind sie dauerhafte Einwohner Kanadas, mit einer Sozialversicherungsnummer und der Chance, kanadischer Staatsbürger zu werden."

"Unmöglich, sich bei der Integration nur auf die Regierung zu verlassen"

Sicher, Trudeau hat es einfacher als die meisten seiner Kollegen in Europa. Es gibt keine Flüchtlingsgruppen, die auf überfüllten Schiffen auf die Küste zusteuern oder direkt an der kanadischen Grenze campieren. Und auch keine Staaten, die Ottawa drängen, die Türen zu öffnen. Kanada kann es sich leisten, die Türen nach seinem Belieben selber zu öffnen, so weit es will, und für wen es will.

Die meisten Flüchtlinge kommen in Familien, das dämpft mögliches Misstrauen und erleichtert die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die meisten Kanadier stammen ja selber aus Einwandererfamilien. Migrationsminister John McCallum versichert indes, dass Kanada sich in den Flüchtlingslagern von Jordanien und Libanon keineswegs etwa Akademiker oder Facharbeiter herauspickt, sondern die Bedürftigsten auf einer Liste, die vom Flüchtlingshilfswerk der UN zusammengestellt wird.

Es ist allerdings nicht der Staat allein, der hilft. Kanada pflegt eine Besonderheit, das private Sponsoring. Mehrere Kanadier spannen sich zu kleinen Helferkreisen zusammen, die sich für ein Jahr verpflichten, sich um eine Flüchtlingsfamilie zu kümmern: mit Lebensmitteln, Wohnung, Kleidung, Sprachkursen.

"Es ist unmöglich, sich bei der Integration nur auf die Regierung zu verlassen", sagt Deena Douara Karim, Sprecherin der Organisation Lifeline Syria in Toronto. Mehr als 12 000 syrische Flüchtlinge werden derzeit durch das private Hilfsprogramm betreut, gestiegen ist die Bereitschaft vor allem nach dem Tod von Aylan Kurdi.

Ab und zu flackern auch Ressentiments auf, werden Übergriffe registriert und unappetitliche Graffiti an Schulwände gesprüht. Prägend ist diese Stimmung nicht. "Dafür haben wir eine zu lange Tradition der Einwanderung", sagt Douara Karim, "gehen Sie einfach eine Straße in Toronto entlang, Sie hören 20 verschiedene Sprachen."

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