Die Berufsträume sind schon mal klar, Tochter Heveen will Zahnärztin werden, Sohn Shergo Polizist. Mohammed Kurdi dankt Kanada, dass er das erleben darf. Das Heranwachsen der Kinder in einem freien Land, ein sicheres Zuhause, ein Leben ohne Bomben, ohne Krieg.
Sein Neffe Aylan Kurdi hat es nicht geschafft. Er lag tot an einem türkischen Strand, ein drei Jahre altes Kind. Aylan war mit seiner Familie in der Türkei in ein Schlepperboot gestiegen. Griechenland war ihr erstes Ziel, Kanada ihr eigentliches. Dort lebt eine Verwandte, die sich um sie kümmern wollte. Aber im hohen Wellengang kenterte das überladene Boot, nur der Vater überlebte. Das Foto des toten kleinen Aylan aus Syrien ging als erschütterndes Symbol durch Europa und um die Welt. Es erreichte natürlich auch Kanada. Und es hat Kanada verändert.
Ein Jahr ist das nun her, dass die Familientragödie der Kurdis in den kanadischen Wahlkampf drang. Wenige Wochen später scheiterte der konservative Premier Stephen Harper samt seiner harten Flüchtlingspolitik, und der Liberale Justin Trudeau übernahm. Er hatte versprochen, mehrere Zehntausend syrische Flüchtlinge im Land aufzunehmen, und genau das wollten die Kanadier von ihm hören.
Fast 33 000 Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland hat Kanada in den vergangenen elf Monaten aufgenommen, aber geplant ist, die Zahl noch weiter zu erhöhen. Das kann man wenig nennen im Vergleich zu Deutschland, Italien, Griechenland, der Türkei, aber bemerkenswert etwa im Vergleich zu Großbritannien oder jenen anderen Staaten der Europäischen Union, die von einer Aufnahmequote für Flüchtlinge nichts wissen wollen.
Ein Bekenntnis zur eigenen Geschichte als Einwanderungsland
Aylans Onkel Mohammed Kurdi kam Ende Oktober vorigen Jahres mit einer Maschine aus Frankfurt in Vancouver an. Er landete in einem aufgerüttelten Kanada, das sich nun wieder seiner Tradition als Einwanderungsland erinnert. Noch ist sein Englisch nicht gut genug, dass er sich ein Interview am Telefon zutraut. Er antwortet der SZ per E-Mail, lässt seine Schwester ins Englische übersetzen, jene Tima Kurdi, die an der fernen Pazifikküste lebt und von Anfang an das Ziel der Flüchtlingsfamilie aus Syrien gewesen war.
Mohammed Kurdi erzählt, "Freunde und Nachbarn haben von Beginn an ihr Herz gegeben, um uns zu begrüßen. Einige kommen zweimal die Woche, um uns Englisch beizubringen, andere kümmern sich um Bürokratisches, Gesundheitskarten, Arztbesuche, um eine Schule für die Kinder, um Unterricht für mich und meine Frau." Im Gegenzug schneidet der gelernte Friseur Nachbarskindern die Haare. Bis der neue Salon seiner Schwester so gut läuft, dass sie ihn einstellen kann. Aber er weiß schon jetzt: "Kanada ist meine neue Heimat." Und Syrien? Würde er jemals zurückgehen, sollte der Krieg einmal zu Ende gehen? Er schreibt, "Unser Land ist zerstört, und es würde viele Jahre dauern, es wieder aufzubauen." Es ist wohl ein Nein.
Als US-Präsident Barack Obama vor einigen Wochen bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen auftrat, schickte er zwei Lobeshymnen zur Flüchtlingspolitik in die Welt: eine für Kanzlerin Angela Merkel, die zweite für die kanadische Regierung. Beide hätten alle Erwartungen übertroffen, sagte Obama. Wenngleich sein Lob für Kanada zugleich auch als Spitze gegen Donald Trump gedeutet werden kann, der Muslime am liebsten gar nicht ins Land lassen will.