Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingspolitik:"Ärzte ohne Grenzen" verzichten aus Protest gegen Flüchtlingspolitik auf EU-Gelder

  • Das Hilfswerk "Ärzte ohne Grenzen" will künftig auf Spenden der EU-Institutionen und ihrer Mitglieder verzichten.
  • Die EU-Flüchtlingspolitik widerspreche den Prinzipien der Organisation.

Für ihr Anliegen kämpfen Hilfsorganisationen meist genauso leidenschaftlich wie um Geld, weil sich ohne Letzteres wenig ausrichten lässt. Nun verzichten die Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" auf knapp 50 Millionen Euro jährlich, da die Geldgeber den Prinzipien und Werten der Organisation widersprächen: medizinische Nothilfe in Kriegs- und Krisengebieten zu leisten. Diese Geldgeber sind die Europäischen Union sowie ihre Mitgliedstaaten.

"Grenzkontrolle, nicht Hilfe"

Die EU-Vereinbarung mit der Türkei gegen die Zuwanderung von Flüchtlingen über die Ägäis sei "die letzte in einer ganzen Reihe politischer Entscheidungen, die jenen Werten und Prinzipien widersprechen, die eine Hilfeleistung ermöglichen", sagte Generalsekretär Jérôme Oberreit in Brüssel. Der EU-Ansatz ziele nicht auf Hilfe, sondern auf Grenzkontrollen ab. Mit dem Versuch, Notleidende aus Europa fernzuhalten, werde ein gefährlicher "Präzedenzfall für die Politik anderer Staaten jenseits der EU" geschaffen.

Oberreit verwies darauf, dass drei Monate nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens als direkte Folge mehr als 8000 Schutzsuchende auf den griechischen Inseln festsitzen. Darunter seien Hunderte unbegleitete Minderjährige und viele Familien, die vor den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan geflohen sind. Sie würden unter völlig unzureichenden Bedingungen oft monatelang in überfüllten Lagern festgehalten und müssten mit der Abschiebung in die Türkei rechnen.

Lob von Amnesty International

2015 bekam "Ärzte ohne Grenzen" von der EU etwa 46 Millionen Euro, das sind rund acht Prozent des Gesamtbudgets der Organisation. Der Einsatz der Ärzte in Griechenland und der Türkei soll fortgesetzt, aber aus privaten Quellen finanziert werden.

Dem radikalen Schritt war eine hitzige Debatte innerhalb der Organisation vorausgegangen. Die Hilfsorganisation Amnesty International lobte auf Twitter die "mutige und prinzipientreue Haltung" der Ärzte. Unterstützer riefen in den sozialen Netzwerken auf, für das Hilfswerk zu spenden.

Neben "Ärzte ohne Grenzen" hatten mehrere Hilfsorganisationen das Abkommen der EU mit Ankara kritisiert. Nur zehn Prozent der etwa drei Millionen Syrer in der Türkei sind in Flüchtlingsunterkünften der Regierung untergebracht. Hilfsorganisationen monieren, dass sie nach ihrem Rücktransport in die Türkei oft auf sich alleine gestellt seien.

"Wir sehen in unseren Projekten jeden Tag, welches Leid die aktuelle EU-Politik verursacht", begründete der Geschäftsführer der deutschen Sektion, Florian Westphal, die Entscheidung. Täglich erlebten die Mitarbeiter "die verheerenden Auswirkungen der EU-Abschottungspolitik" für Menschen auf der Flucht, besonders für verletzliche Gruppen wie Schwangere, Kinder und unbegleitete Minderjährige.

Bedauern aus dem Auswärtigen Amt

Ein Sprecher der EU-Kommission verteidigte die Rechtmäßigkeit des EU-Türkei-Paktes. Auf die Kritik der Hilfsorganisation an den konkreten Konsequenzen des Abkommens für das Schicksal der Flüchtlinge ging der Sprecher nicht ein. Ihm zufolge werde die Entscheidung der Ärzte keine direkten Auswirkungen auf EU-geförderte Hilfsprojekte haben. "Ärzte ohne Grenzen" sei kein Partner für die Umsetzung humanitärer EU-Hilfe in der Türkei.

Das Auswärtige Amt in Berlin bedauerte die Entscheidung. Eine Sprecherin sagte, man habe Hochachtung vor der Arbeit der Organisation. Besonders in einer Zeit von Kriegen und Krisen sei "Ärzte ohne Grenzen" ein unverzichtbarer Partner.

"Ärzte ohne Grenzen" leistet derzeit Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene in mehr als 40 Ländern, darunter in Griechenland, Serbien, Frankreich und Italien sowie auf drei Rettungsschiffen im Mittelmeer. In den vergangenen 18 Monaten haben die Teams etwa 200 000 Flüchtende in Europa behandelt. 1999 wurde die Organisation mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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