Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingslager:Zelte statt Zimmer - der Notfall wird normal

Ein Winter im Zelt: Das steht vielen Flüchtlingen in Deutschland bevor. Wie winterfest kann so ein Zelt sein?

Von Ruth Eisenreich, Ellwangen

Der Mann in der blauen Daunenjacke will in seinem Zelt bleiben. Er kommt aus Pakistan, Aftab heißt er, den Nachnamen behält er lieber für sich. Acht Nächte haben er und sein 13-jähriger Sohn bisher mit acht anderen in diesem Zelt verbracht. Bald sollen sie in ein festes Gebäude umziehen, Aftab hat sich den Raum vorab angeschaut. "Eine große Halle, viele Menschen", sagt er und deutet mit der Hand Dauergeplapper an. Im Zelt hingegen gehe es ihm gut: "Wir haben warme Sachen bekommen, Schuhe, es gibt eine Heizung."

Lieber Zelt als Zimmer? Als im Juni und Juli an verschiedenen Orten in Deutschland erstmals Zelte für Flüchtlinge aufgestellt wurden, war noch von "vorübergehenden Notlösungen" die Rede, viele Menschen empfanden die Unterbringung als Skandal. "Die Menschen in Zelten einzuquartieren, ist absolut inakzeptabel", kommentierte damals etwa der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen. Als die Zahl der Zelte im Laufe des Sommers stieg, statt zu sinken, lautete der Konsens: Bis zum Winter müssen die Zelte weg, jeder Geflüchtete braucht einen Platz in einem festen Gebäude. Inzwischen steht fest, dass viele auch den Winter über in Zelten leben werden. In "winterfesten" Zelten - aber was bedeutet das?

"Hauptsache, es ist muggelig warm"

Hinter Aftabs Zelt auf dem Gelände der Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea) für Flüchtlinge im baden-württembergischen Ellwangen dröhnt und rauscht ein knallrot glänzender Kasten. Hier wird Heizöl verbrannt, ein dicker gelber Schlauch leitet die Wärme ins Zelt, am inneren Ende des Schlauchs trocknet ein Paar Turnschuhe. In der Winterjacke kommt man hier schnell ins Schwitzen. Energieeffizienz sieht anders aus, sagt Berthold Weiß, Leiter der Lea und nebenbei Fraktionsvorsitzender der Grünen in Ellwangen: "Das fuchst den Schwaben natürlich, aber in den Zelten ist es schön muggelig warm, das ist die Hauptsache."

Als die aufgelassene Kaserne in Ellwangen im April in ein Flüchtlingslager umgewandelt wurde, plante man für 500 bis 1000 Menschen. Nun leben in der Lea Ellwangen etwa 3000, durchschnittlich bleiben sie für drei Wochen, sagt Weiß. Er führt durch die Gebäude der alten Kaserne, durch Zimmer, in denen die Stockbetten dicht an dicht stehen. Beim Hinausgehen schiebt er mit dem Fuß Ziegelsteine weg, die die Haustore offenhalten. Dass hier unnötig Wärme entweicht, auch das fuchst ihn.

Draußen regnet es, die Erde ist weich, es riecht nach Wald. Weil nicht mehr alle Flüchtlinge in den Kasernengebäuden Platz haben, stehen hier zwei größere Zelte, sogenannte Leichtbauhallen, mit je etwa 60 niedrigen Stockbetten und ein paar Feldbetten. Viele Flüchtlinge liegen auch jetzt, am Nachmittag, darauf, unterhalten sich, hören Musik, versuchen zu schlafen. Auf dem Boden stehen Sportschuhe, aber auch Sandalen und Flipflops. Decken und Tücher hängen über den Stangen der Stockbetten und gewähren denen, die unten liegen, ein letztes Restchen von Privatsphäre.

In den Leichtbauhallen gibt es Deckenlampen und einen Boden aus Spanplatten. In den kleineren Zelten, die zusätzlich auf dem Kasernengelände aufgebaut wurden, ist der Boden nur eine dünne Plastikplane. Zwanzig von ihnen stehen auf einem Geröllfeld auf dem Kasernengelände. Wer vor den Betten von Aftab und seinem Sohn steht, spürt selbst mit festen Winterschuhen die zentimetergroßen Steine unter den Füßen.

Nach einem Brandbrief wurden 1000 Bewohner verlegt

Lagerleiter Berthold Weiß führt weiter zur ehemaligen Werkstatthalle der Kaserne. Noch gibt es hier nur schwere Stahltüren, Metallgitter am Boden und den Gestank nach Motoröl; bald sollen WCs, Duschen und eine Essensausgabe stehen, die Halle soll dann die kleinen Zelte ersetzen und im besten Fall auch die beiden großen. "Das wird aber nicht vor dem ersten Schnee fertig", sagt Weiß.

Deswegen verlegt man nun die kleinen Zelte nach und nach in die ehemaligen Panzerhallen, an einer Seite offene Betonbauten. Der Weg zum Klo geht zwar auch hier durchs Freie und damit wohl bald durch Regen und Schnee, aber immerhin ist er befestigt.

Ein paar Flüchtlinge kommen auf Weiß zu, klagen, sie hätten keinen Strom und kein Licht. Weiß verspricht, sich darum zu kümmern. Die meisten hier sind relativ zufrieden mit dem Lager. "Wären Sie vor einem Monat hier gewesen, hätten Sie einen Katastrophenreport geschrieben", sagt ein junger Mann: "Jetzt ist es okay". Vor einem Monat, da lebten noch mehr als 4500 Geflüchtete hier. Die Hilfsorganisationen vor Ort schrieben damals einen Brief an das Regierungspräsidium Stuttgart, kritisierten stundenlange Wartezeiten bei der Essensausgabe, einen Mangel an Matratzen und WCs, überfordertes Sicherheitspersonal. Leiter Weiß verzieht das Gesicht, wenn das Gespräch auf den Brief kommt. "Das wird immer als Organisationsversagen ausgelegt", sagt er, "aber wenn die Infrastruktur für tausend ausgelegt ist und vier Mal so viele da sind, ist klar, dass einiges nicht funktioniert. Und wir können ja nicht an die Tür schreiben: Wegen Überfüllung geschlossen." Schlussendlich hat der Brandbrief sein Leben erleichtert, tausend Flüchtlinge wurden in andere Lager verlegt.

"Uns ist noch immer etwas eingefallen"

Von Zäunen und Obergrenzen für Flüchtlinge hält Weiß trotz all dem nichts. "Zu sagen, das Recht auf Asyl gilt bei uns nicht mehr, weil wir zehn zu viel haben oder auch zehntausend, das wäre ein Verrat an unserer gesellschaftlichen Grundordnung", sagt er. Er wünscht sich stattdessen noch schnellere Verfahren für syrische Flüchtlinge: "Die kriegen die Anerkennung wie das Amen im Gebet, aber davor müssen sie drei, vier Wochen hier herumsitzen."

In der Lea Ellwangen versuchen er und seine Mitarbeiter derzeit, aus dem Notfall- in den Normalmodus zu kommen. In der Annahme, dass die Zahlen bald zurückgehen würden, sei man zunächst beim Bestellen von Containern und beim Einstellen von Personal eher abwartend vorgegangen, sagt Weiß. "Inzwischen hat sich bei allen Beteiligten die Erkenntnis durchgesetzt: Das wird in absehbarer Zeit nicht zurückgehen, wir brauchen Infrastruktur für zwei- oder dreitausend Menschen".

Nun also die Zelte, die Werkzeughalle. Und was, wenn irgendetwas schiefgeht, wenn im Winter eines der Zelte Sturm und Schnee nicht standhält? "Uns ist noch immer etwas eingefallen", sagt Weiß. "Du kannst hier nicht streng nach den Buchstaben des Gesetzes arbeiten, sondern musst täglich das Beste aus der jeweiligen Situation machen. Unsere größte Stärke ist, dass wir richtig gut improvisieren können."

Kurz nach 17 Uhr, die Sonne ist gerade malerisch hinter dünnen Wölkchen untergegangen, das Thermometer zeigt acht Grad. Unten bei den freistehenden Zelten, wo Aftab wohnt, wird es langsam dunkel. Wer zum Klo- und Duschcontainer will, muss den Weg durch das Geröllfeld mangels Beleuchtung bald mit Hilfe seines Handydisplays finden.

Am nächsten Tag ein Telefonat mit Leiter Berthold Weiß: Die Zelte im Freien sind weg, sagt er - früher als erhofft übersiedelt in die Panzerhallen.

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