Süddeutsche Zeitung

Nach Brand in Flüchtlingslager:Roth kritisiert "Totalversagen des Innenministers" bei Moria

Seehofer mache sich mitverantwortlich an "unmenschlichem Leid": Die Grünen-Politikerin kritisiert, dass er nur 100 bis 150 Personen aufnehmen will. Auch aus der Union gibt es Forderungen, mehr zu tun.

Im Streit um die Aufnahme von Migranten aus dem abgebrannten griechischen Flüchtlingslager Moria greift Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth Bundesinnenminister Horst Seehofer scharf an. "Die Ankündigung von Horst Seehofer, nur zwischen 100 und 150 Minderjährige aus Moria in Deutschland aufzunehmen, ist ein Totalversagen des Innenministers", sagte die Grünen-Politikerin der Augsburger Allgemeinen. Die Zusage entspreche nur einem Bruchteil der Angebote zur Aufnahme von fast 180 Kommunen und mehrerer Bundesländer. "Mit seiner Ablehnung macht Seehofer sich mitverantwortlich an dem unmenschlichen Leid an Europas Haustür", kritisierte Roth.

Nun sei Regierungschefin Angela Merkel am Zug. "Ich erwarte von der Bundeskanzlerin, dass sie von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch macht und eine großzügige Aufnahme in Deutschland ermöglicht." Wenn andere EU-Mitgliedsstaaten mitmachen, wäre das ein gutes Zeichen, sagte Roth. Die Bundesrepublik müsse aber jetzt den ersten beherzten Schritt wagen.

Die Regierung arbeitet nach den Worten Seehofers bereits daran, zügig weitere Migranten aus Moria aufzunehmen. "Ich lege persönlich sehr großen Wert darauf, dass wir eine rasche Lösung für Familien mit Kindern finden. Die Aufnahme der 400 unbegleiteten Minderjährigen ist nur der erste Schritt. Der zweite Schritt wird folgen", hatte der CSU-Politiker am Freitagabend in Berlin erklärt.

Röttgen fordert stärkere Hilfsbereitschaft

Auch aus der Union gibt es Forderungen nach mehr Hilfsbereitschaft. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses und Kandidat für den CDU-Vorsitz, Norbert Röttgen, hält die bisherigen Hilfsangebote für nicht weitgehend genug. Röttgen sagte der SZ, er sei der Auffassung, "dass Deutschland möglichst gemeinsam mit anderen EU-Staaten 5000 Flüchtlinge" aufnehmen könne. Denn "auf diese humanitäre Notlage müssen wir schnell und angemessen reagieren, und das können wir auch". Es handele sich um eine "abgrenzbare humanitäre Notlage", bei der man deshalb "helfen könne, ohne falsche Anreize zu setzen".

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) wird vom Deutschlandfunk damit zitiert, Deutschland könne ein Zeichen setzen und selbst 2000 Menschen aufnehmen. Moria sei ein letzter Weckruf für die Europäische Union. Nach fünf Jahren Flüchtlingsdebatte sei der Zeitpunkt gekommen, nicht länger auf eine einheitliche europäische Linie zu setzen.

Auch ein Großteil der SPD-Fraktion fordert von Bundeskanzlerin Merkel, mehr Menschen aus Moria aufzunehmen. Die bisherige Zusage Deutschlands sei "der Lage nicht angemessen und beschämend", heißt es in dem Brief an Merkel, den 92 von 152 SPD-Abgeordneten unterzeichneten. "Wir plädieren nachdrücklich dafür, dass Deutschland umgehend in der Größenordnung Geflüchtete aufnimmt, wie bereits Zusagen aus den Ländern vorliegen", heißt es weiter.

Am Freitag hatte Seehofer mitgeteilt, dass sich zehn europäische Staaten an der Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen beteiligen. Ein Großteil - je 100 bis 150 - werde von Deutschland und Frankreich aufgenommen. Das Lager Moria war in der Nacht zum Mittwoch bei mehreren zeitgleichen Bränden fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen knapp 3000 Migranten waren dort mehr als 12 000 Menschen untergebracht. Einige der Migranten sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Bewohner des Lagers wegen Corona-Infektionen Quarantäne verordnet worden war.

Beamtenbund: "In vielen Städten gibt es freie Aufnahmeplätze"

UN-Generalsekretär António Guterres forderte eine Verlagerung aller bisher dort lebenden Geflüchteten auf das Festland. Er habe die "Verwüstung" verfolgt, schrieb Guterres auf Twitter. "Die Lösung liegt darin, sich um alle betroffenen Menschen zu kümmern, insbesondere die Verwundbarsten, und anzufangen damit, die Menschen auf das Festland zu bringen."

Die Städte und Kommunen in Deutschland haben laut Beamtenbund dbb zahlreiche freie Plätze in Aufnahmeeinrichtungen. "In vielen Städten gibt es freie Aufnahmeplätze, da Flüchtlinge von 2015 mittlerweile in regulären Wohnungen leben oder nicht mehr in Deutschland sind", sagte der dbb-Vorsitzende Ulrich Silberbach. Aufgrund der Erfahrungen von 2015 seien die Kommunen mittlerweile besser vorbereitet, so Silberbach. 2015 waren knapp 900 000 Asylbewerber nach Deutschland gekommen, für das vergangene Jahr hat das Innenministerium eine Zahl von etwa140 000 Asylerstanträgen genannt.

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