Prantls Blick:Die Flüchtlings-Christkinder auf Lesbos

Lesezeit: 4 Min.

Tausende Flüchtlinge verharren in den Lagern auf Lesbos. (Foto: dpa)

Die europäischen Regierungen verweigern sich der Hilfe. Sie sind nicht sehr viel besser als der König Herodes in biblischen Zeiten, der die Kinder hat umbringen lassen.

Von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Die Stücke des Dramatikers Samuel Beckett, der vor dreißig Jahren gestorben ist, handeln vom vergeblichen Warten: darauf, dass einer kommt oder darauf, dass einer geht. Die Menschen in diesen Stücken wissen einfach nicht, was sie tun sollen: Sollen sie in der Untätigkeit verharren? Oder sollen sie diese Untätigkeit durch eine Entscheidung durchbrechen? Und weil sie sich nicht entscheiden können, flüchten sie sich in leere Gesten und erzählen Geschichten, die immer dünner werden. Das Stück über das vergebliche Warten darauf, dass einer kommt, heißt "Warten auf Godot".

Warten auf himmlische Rettung

Die Rettung, von der die Weihnachtsengel künden, erinnert an dieses vergebliche Warten. Warum? Die himmlische Rettung wird seit zweitausend Jahren angekündigt - sie kommt aber nicht. Das liegt wohl auch daran, dass zu viele Leute immer wieder erwartet haben, dass ohne ihr Zutun irgendwas passiert, dass irgendwer kommt: ein Godot, ein Gott, eine Revolution. Oder dass irgendwas oder irgendwer verschwindet: ein Diktator, die Ausbeutung, das Elend. Die Rettung kommt aber nicht durch irgendwas oder irgendwen, sondern vor allem durch einen selber.

Es ist der vierte Adventssonntag. Advent heißt Ankunft. Das Wort hat in flüchtigen Zeiten eine ganz besondere Bedeutung: Flüchtlinge sollen, sollten wieder im Leben ankommen. Aber das Leben, das viele von ihnen leben müssen, ist kein Leben.

Auf der griechischen Insel Lesbos, in Europa also, versinken die Flüchtlinge im Dreck und in der bewussten Untätigkeit der europäischen Regierungen. Die Helfer von "Ärzte ohne Grenzen" sind der Not nicht mehr gewachsen. Sie berichten vom unglaublichen Elend, sie berichten von grauenvollen Zuständen: Sie berichten von Kleinkindern, die ihren Kopf auf den Boden schlagen, die sich das Haar ausreißen und sich in die Arme beißen. Die Helfer berichten von immer mehr Suizidversuchen verzweifelter Menschen. Bundesinnenminister Horst Seehofer von der Christlich-Sozialen Union weigert sich, die mehr als Kinder und Jugendlichen, die im Flüchtlingslager "Moria" auf Lesbos dahinvegetieren, nach Deutschland zu holen. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck forderte nun, die Kinder aus Griechenland hierher zu bringen. Auch Boris Pistorius, der SPD-Innenminister von Niedersachsen, hatte geschockt und eindringlich darum gebeten, nachdem er die katastrophalen Zustände auf Lesbos mit eigenen Augen gesehen hatte.

"Der Retter ist da-ah"- so steht es in der dritten Strophe von "Stille Nacht", so wird man es an Weihnachten millionenfach singen. Aber es stimmt nicht. Es gibt keinen Retter für die Flüchtlinge auf Lesbos, es gibt keinen Retter für die 43 000 Flüchtlinge, die seit August in Griechenland angekommen sind. Es gibt keinen Retter für all die, die schon in Europa angekommen sind; und es gibt keinen Retter für die, die vor den Toren Europas auf Rettung warten. Ein paar Regierungen der Europäischen Union spenden für die Flüchtlinge auf Lesbos dünne Decken, aber keine starke Hilfe. Die Bundesregierung wartet auf eine europäische Lösung und sie wartet darauf, dass der UN-Flüchtlingspakt, über dessen Umsetzung in Genf gerade wieder diskutiert wird, irgendwelche Wirkungen entfaltet. Es ist ein inhumanes, es ist ein tödliches, es ist ein kriminelles Warten.

Nicht einmal die Regeln der Familienzusammenführung werden angewendet. Sie könnten eine Sogwirkung in Richtung Deutschland entfalten, heißt es. Es ist ein anderer Sog entstanden: Der Sog der brutalen Gleichgültigkeit, die Papst Franziskus schon 2013 angeprangert hat. Die Gleichgültigkeit, die Untätigkeit soll der Abschreckung dienen. Es ist dies aber ein Verrat an den europäischen Idealen. Ein Europa, das so agiert, ist kein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; es ist ein Raum der Unbarmherzigkeit und der Gnadenlosigkeit. Vor sieben Jahren, im Jahr 2012, hat diese EU den Friedensnobelpreis erhalten. Wenn sie mit Flüchtlingen so umgeht, müsste ihr dieser Preis eigentlich wieder aberkannt werden.

Das Sterben im Mittelmeer

In den Weihnachtsgottesdiensten muss von der Not der Flüchtlingskinder gepredigt werden. Sie alle sind Christkinder, auch wenn sie Muslime oder ohne Religion sind. Jesus Christus war auch kein Christ, sondern Jude. Die europäischen Regierungen, die sich der Hilfe verweigern, sind nicht viel besser als der König Herodes in biblischen Zeiten, der die Kinder hat umbringen lassen.

Es gibt einen wunderbaren Dokumentarfilm, der zeigt, was private kleine Hilfsorganisationen leisten: Dieser Film über "Sea Watch" ist fast zwei Stunden lang und er ist unglaublich beeindruckend: 21 Tage lang haben zwei Journalisten vom NDR die Rettungsmission Sea Watch 3 mit der Kamera begleitet, vom Auslaufen des Schiffs bis zur Festnahme der Kapitänin Carola Rackete. Der Film zeigt uns das Sterben im Mittelmeer, er zeigt es uns auf eine Weise, die eine abgestumpfte Politik hoffentlich aufschreckt.

Wann wirklich Weihnachten ist

Das Sterben im Mittelmeer ist eine permanente Katastrophe. Zweieinhalbtausend Menschen starben im Jahr 2018 bei dem Versuch, Europas Küsten zu erreichen oder gelten bis heute als vermisst. Jeden Tag, so sagt es das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, sterben vier Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer. An solche Zahlen darf man sich nicht gewöhnen. Die Rettungsaktionen von Sea Watch und Sea Eye sind Aktionen gegen einen inhumanen Fatalismus.

Die AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag hat dort soeben einen Antrag eingebracht, der zum Ziel hat, Organisationen wie Sea-Eye und Sea-Watch die Gemeinnützigkeit entziehen zu lassen - und sie als "Vereine des organisierten Verbrechens" bewertet. Man möchte solchen Leuten verbieten, Weihnachten zu feiern.

Weihnachten ist kalendarisch am 24./25. Dezember. Das wirkliche Weihnachten ist in diesen Zeiten dann, wenn Flüchtlinge gerettet werden. Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn Flüchtlingskinder wieder sprechen, spielen und essen. Das wirkliche Weihnachten ist dann, wenn "Der Retter" wirklich kommt - und er nicht nur im Weihnachtslied besungen wird.

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