Flüchtlingskrise:Wien ist das neue München

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A migrants' child leans to a fencing as they wait for trains at Westbahnhof railway station in Vienna

Ein kleines Mädchen wartet mit seiner Familie am Wiener Westbahnhof auf eine Zugverbindung nach Deutschland.

(Foto: REUTERS)

Weil Deutschland an den Grenzen kontrolliert, stranden Tausende Flüchtlinge in Wien. Dort funktioniert die freiwillige Hilfe ähnlich gut wie in München. Obwohl die Stadt mitten im Wahlkampf steckt.

Von Ruth Eisenreich, Wien

So viel Gelassenheit hätte man den notorisch grantigen Wienern gar nicht zugetraut: Die Schlange vor dem ÖBB-Reisezentrum zieht sich durch die halbe Bahnhofshalle. Kaum jemand hier wird heute pünktlich an seinem Reiseziel ankommen, aber nirgends sind lautstarke Beschwerden zu hören. Die Stimmung am Hauptbahnhof entspricht der unter einem Mauervorsprung während eines schnell aufziehenden Gewitters: "Kann man nichts machen", scheinen die meisten hier zu denken, und: "Wir sitzen alle im selben Boot." Es ist das Boot, in dem vor wenigen Tagen noch die Münchner saßen. Die deutsche Regierung hat nun die Wiener hineingesetzt.

Mindestens 20 000 Flüchtlinge sind laut Innenministerium allein am Montag in Nickelsdorf und Heiligenkreuz an der ungarischen Grenze angekommen. Und weil Deutschland am Sonntagabend Kontrollen an den Grenzen zu Österreich eingeführt hat und die Züge zwischen den beiden Ländern nur noch unregelmäßig fahren, sind viele von ihnen in Österreich gestrandet. Die Stadt Wien habe die Zahl der Notschlafplätze innerhalb weniger Tage von 700 auf 7000 verzehnfachen müssen, sagt Alexander Seidl, der Sprecher des Wiener Flüchtlingskoordinators.

Das neueste Notquartier ist das Ferry-Dusika-Stadion in der Wiener Leopoldstadt, wo sonst Radrennen und Leichtathletik-Wettbewerbe ausgetragen werden. Gemeinsam mit einer Sporthalle nebenan, wo Familien untergebracht werden, soll es Platz für bis zu 1700 Menschen bieten.

Es ist ein lauer Abend, ein paar Männer sitzen vor dem Stadion auf dem Boden, aus einem Handy dudelt Bollywood-Musik. Drinnen sind die Treppenaufgänge durch blaues Plastikband abgesperrt, das von der EM übriggeblieben ist: "Uefa Euro 2008" steht darauf. Ein paar Männer schlafen trotz Neonlicht und Stimmengewirr auf ihren Isomatten, andere sitzen auf dem rostroten Boden mit den Laufbahnmarkierungen und essen Tomaten, Gurken und Oliven von Plastiktellern. Die Atmosphäre ist entspannt, friedlich, gelöst. Ein etwa zehnjähriger Junge probiert ein Deo aus und verzieht das Gesicht, als er den Moschusduft riecht.

Zwei Wochen lang habe Österreich "super PR" gehabt, sagt einer der freiwilligen Helfer, "Gottfried" steht mit Filzstift auf dem Schildchen an seiner Brust. "Und ich hab' mir gedacht: Wir haben's ja leicht, wir geben ihnen Lunchpakete und schicken sie weiter nach Deutschland. Jetzt staut sich alles hierher zurück." Wie wohl die meisten hier hat Gottfried ein Problem mit der europäischen Flüchtlingspolitik, "Dublin III ist einfach ein Blödsinn", sagt er, während er einem Flüchtling Tee aus einer Thermoskanne einschenkt. Aber er hat auch ein bisschen Verständnis für die Regierungen: "Medial kannst du's nicht richtig machen - nimmt die Merkel alle, ist sie der Buhmann, nimmt sie niemanden, ist sie auch der Buhmann."

Traiskirchen hat das Land den ganzen Sommer bewegt

Nebenan, in der Halle für die Familien, wieder Stimmengewirr, das Quietschen von Schuhen auf Kunststoffboden, ein dumpfer Knall, als ein junges Mädchen mit Kopftuch einen Wasserball bis fast an die Decke kickt. Kinder schlafen auf den nackten Matratzen am Boden, zugedeckt mit Filzdecken, ohne Bettwäsche. Einige Jungs spielen Tischfußball, ein kleines Mädchen hilft einem Freiwilligen beim Tragen eines großen Müllsacks. "Wien ist anders", steht auf großen Transparenten an der Hallenwand, seit vielen Jahren der Slogan der Hauptstadt.

Den ganzen Sommer über haben die Zustände im Erstaufnahmelager Traiskirchen das Land bewegt. Das Lager 20 Kilometer südlich von Wien war so überfüllt, dass Tausende, darunter viele Kinder, unter freiem Himmel auf dem Boden schlafen mussten; die Sanitäreinrichtungen und die medizinische Versorgung waren katastrophal. Der Grund für die Überfüllung: Die Bundesländer stellten viel zu wenige Unterkünfte zur Verfügung, die Flüchtlinge blieben in Traiskirchen hängen. Wien war schon damals das einzige Land, das sein Soll übererfüllte. Dabei ist es offensichtlich geblieben: Das Rote Kreuz hat in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch nach eigenen Angaben österreichweit 13 000 Menschen betreut - fast die Hälfte davon in Wien.

Das ist umso bemerkenswerter, als Wien mitten im Wahlkampf steckt und die FPÖ der seit 70 Jahren regierenden SPÖ in den Umfragen bedrohlich nahe kommt. Noch taucht das Thema Flüchtlinge auf den Wahlplakaten kaum auf. Außer auf denen der Rechtspopulisten natürlich, die seit vielen Jahren kein anderes Thema kennen. "Sicherheit für unsere Bürger statt offener Grenzen für Kriminelle", heißt es auf ihren Plakaten.

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