So viel Gelassenheit hätte man den notorisch grantigen Wienern gar nicht zugetraut: Die Schlange vor dem ÖBB-Reisezentrum zieht sich durch die halbe Bahnhofshalle. Kaum jemand hier wird heute pünktlich an seinem Reiseziel ankommen, aber nirgends sind lautstarke Beschwerden zu hören. Die Stimmung am Hauptbahnhof entspricht der unter einem Mauervorsprung während eines schnell aufziehenden Gewitters: "Kann man nichts machen", scheinen die meisten hier zu denken, und: "Wir sitzen alle im selben Boot." Es ist das Boot, in dem vor wenigen Tagen noch die Münchner saßen. Die deutsche Regierung hat nun die Wiener hineingesetzt.
Mindestens 20 000 Flüchtlinge sind laut Innenministerium allein am Montag in Nickelsdorf und Heiligenkreuz an der ungarischen Grenze angekommen. Und weil Deutschland am Sonntagabend Kontrollen an den Grenzen zu Österreich eingeführt hat und die Züge zwischen den beiden Ländern nur noch unregelmäßig fahren, sind viele von ihnen in Österreich gestrandet. Die Stadt Wien habe die Zahl der Notschlafplätze innerhalb weniger Tage von 700 auf 7000 verzehnfachen müssen, sagt Alexander Seidl, der Sprecher des Wiener Flüchtlingskoordinators.
Das neueste Notquartier ist das Ferry-Dusika-Stadion in der Wiener Leopoldstadt, wo sonst Radrennen und Leichtathletik-Wettbewerbe ausgetragen werden. Gemeinsam mit einer Sporthalle nebenan, wo Familien untergebracht werden, soll es Platz für bis zu 1700 Menschen bieten.
Es ist ein lauer Abend, ein paar Männer sitzen vor dem Stadion auf dem Boden, aus einem Handy dudelt Bollywood-Musik. Drinnen sind die Treppenaufgänge durch blaues Plastikband abgesperrt, das von der EM übriggeblieben ist: "Uefa Euro 2008" steht darauf. Ein paar Männer schlafen trotz Neonlicht und Stimmengewirr auf ihren Isomatten, andere sitzen auf dem rostroten Boden mit den Laufbahnmarkierungen und essen Tomaten, Gurken und Oliven von Plastiktellern. Die Atmosphäre ist entspannt, friedlich, gelöst. Ein etwa zehnjähriger Junge probiert ein Deo aus und verzieht das Gesicht, als er den Moschusduft riecht.
Zwei Wochen lang habe Österreich "super PR" gehabt, sagt einer der freiwilligen Helfer, "Gottfried" steht mit Filzstift auf dem Schildchen an seiner Brust. "Und ich hab' mir gedacht: Wir haben's ja leicht, wir geben ihnen Lunchpakete und schicken sie weiter nach Deutschland. Jetzt staut sich alles hierher zurück." Wie wohl die meisten hier hat Gottfried ein Problem mit der europäischen Flüchtlingspolitik, "Dublin III ist einfach ein Blödsinn", sagt er, während er einem Flüchtling Tee aus einer Thermoskanne einschenkt. Aber er hat auch ein bisschen Verständnis für die Regierungen: "Medial kannst du's nicht richtig machen - nimmt die Merkel alle, ist sie der Buhmann, nimmt sie niemanden, ist sie auch der Buhmann."
Traiskirchen hat das Land den ganzen Sommer bewegt
Nebenan, in der Halle für die Familien, wieder Stimmengewirr, das Quietschen von Schuhen auf Kunststoffboden, ein dumpfer Knall, als ein junges Mädchen mit Kopftuch einen Wasserball bis fast an die Decke kickt. Kinder schlafen auf den nackten Matratzen am Boden, zugedeckt mit Filzdecken, ohne Bettwäsche. Einige Jungs spielen Tischfußball, ein kleines Mädchen hilft einem Freiwilligen beim Tragen eines großen Müllsacks. "Wien ist anders", steht auf großen Transparenten an der Hallenwand, seit vielen Jahren der Slogan der Hauptstadt.
Den ganzen Sommer über haben die Zustände im Erstaufnahmelager Traiskirchen das Land bewegt. Das Lager 20 Kilometer südlich von Wien war so überfüllt, dass Tausende, darunter viele Kinder, unter freiem Himmel auf dem Boden schlafen mussten; die Sanitäreinrichtungen und die medizinische Versorgung waren katastrophal. Der Grund für die Überfüllung: Die Bundesländer stellten viel zu wenige Unterkünfte zur Verfügung, die Flüchtlinge blieben in Traiskirchen hängen. Wien war schon damals das einzige Land, das sein Soll übererfüllte. Dabei ist es offensichtlich geblieben: Das Rote Kreuz hat in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch nach eigenen Angaben österreichweit 13 000 Menschen betreut - fast die Hälfte davon in Wien.
Das ist umso bemerkenswerter, als Wien mitten im Wahlkampf steckt und die FPÖ der seit 70 Jahren regierenden SPÖ in den Umfragen bedrohlich nahe kommt. Noch taucht das Thema Flüchtlinge auf den Wahlplakaten kaum auf. Außer auf denen der Rechtspopulisten natürlich, die seit vielen Jahren kein anderes Thema kennen. "Sicherheit für unsere Bürger statt offener Grenzen für Kriminelle", heißt es auf ihren Plakaten.
Auch am Westbahnhof prangt ein FPÖ-Plakat, die freiwilligen Helferinnen ignorieren Parteichef Heinz-Christian Strache und seine eisblauen Augen allerdings. Die 21-jährige Studentin Mana Samadzadeh und ihre Kolleginnen sind auch so schon wütend genug. Auf die Polizei, die einen der ihren wegen illegalen Spendensammelns angezeigt habe (die Polizei reagierte am Mittwoch auf eine Nachfrage von SZ.de nicht). Auf die Österreichischen Bundesbahnen, die sie mit ihrem Stand vom Bahnhofsgelände vertrieben hätten. Hierher, wo sie kaum zu finden seien. Sicherheitsmaßnahmen, erklärt eine ÖBB-Sprecherin: Wegen des Stands seien zu viele Personen zu nah an den Gleisen gestanden.
Und vor allem sind die Helferinnen wütend auf die Politiker vom Bundespräsidenten abwärts, die sich zu Beginn der Krise beim Helfen am Bahnhof fotografieren ließen. "Der Bundespräsident war nach zehn Minuten wieder weg", sagt Samadzadeh, "und einer von den Grünen hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt: Super macht's ihr das, uns braucht ihr eh nicht, gell."
Anders als am Westbahnhof klappt die Zusammenarbeit mit ÖBB und Polizei am Hauptbahnhof offenbar sehr gut. Das sagt zumindest Ashley Winkler, Jeanshemd, Nasenpiercing, platinblonde Haare. Die Grafikdesignerin und Bloggerin ist seit zwei Wochen hier im Dauereinsatz. Sie hilft, die Helfer zu koordinieren. Das Kernteam hier bestehe aus 60 bis 80 Leuten, sagt Winkler, aber auf der Liste der abrufbereiten Helfer stünden mittlerweile 1700 Namen.
Am Hauptbahnhof gibt es inzwischen einen Schlafraum für 150 Menschen, zwei Essensausgaben, ein Lazarett, für die Helfer Walkie-Talkies und ein Supervisionsangebot. In den ersten zwei Septemberwochen kamen pro Tag zwischen 1000 und 3000 Flüchtlinge am Hauptbahnhof an, zeigt ein Plakat an der rohen Betonwand der provisorischen Einsatzzentrale, in der Winkler sitzt. Am Montag, Tag eins der deutschen Grenzkontrollen, waren es 5300.
An den Bahnsteigen gibt es Gesichtskontrollen
Die Bilder, die Geräusche, die Gerüche am Hauptbahnhof gleichen denen am Westbahnhof und im Dusika-Stadion. Auf dem Boden sitzende, wartende Flüchtlinge. Mit Filzstift beschriftete Pappschilder, die mehrsprachig und mit Hilfe von Strichmännchen den Weg zu den Klos, zur Essens- und zur Kleiderausgabe weisen und den Flüchtlingen erklären, dass das Leitungswasser in Wien trinkbar ist. Helfer, meist jung, auf der Brust Schildchen mit ihren Vornamen, am Rücken Zettel mit ihren Sprachkenntnissen.
Der Zettel auf Delawar Khans Rücken ist besonders lang: "Urdu Hindi Farsi Dari Pashtu", steht darauf. Delawar Khan ist 18. Mit 15 kam er alleine aus Afghanistan nach Österreich. Mittlerweile spricht er gut Deutsch. Seine eigene Geschichte wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Frage, wie es für die Neuankömmlinge weitergehen soll: Delawar Khan hat hier seinen Hauptschulabschluss gemacht, aber er darf weder eine Lehrstelle noch einen Job annehmen - denn auch mehr als drei Jahre nach seiner Ankunft hat die Republik noch nicht entschieden, ob er bleiben darf.
Am Westbahnhof kämpfen Mana Samadzadeh und ihre Kolleginnen derweil mit der Informationslage. Flüchtlinge wollen wissen, wann die nächsten Züge fahren. "There are no trains", müssen die jungen Frauen antworten. Der Versuch der deutschen Regierung, durch die Grenzkontrollen die anderen EU-Länder zur Übernahme von mehr Verantwortung zu zwingen, ist für Samadzadeh gründlich schiefgegangen: "Jetzt machen alle die Grenzen zu."
Österreich kontrolliert seit Mittwoch an den östlichen und südlichen Landesgrenzen, und selbst innerhalb der Republik werden Grenzen hochgezogen. Oben am Zugang zu den Bahnsteigen gibt es am Mittwochnachmittag Gesichtskontrollen. In die Züge nach Salzburg darf nur, wer nicht nach Asylbewerber aussieht - weil in Salzburg bereits so viele Flüchtlinge seien, sagt ein Mitarbeiter der privaten Westbahn.
Was also hat sich durch die Grenzkontrollen verändert? "Dass niemand mehr eine Ahnung hat, was gerade passiert", sagt Mana Samadzadeh. "Niemand weiß, was in einer Woche ist", sagt Roland Haller, der Leiter des Notquartiers im Dusika-Stadion. Die Situation sei "einigermaßen herausfordernd", sagt der Sprecher des Innenministeriums: "Wir können nicht planen, nur reagieren."