Es ist ein Dokument der Dringlichkeit. Allein dreimal findet sich darin das Wort "unverzüglich". An anderen Stellen heißt es "schnell", "zügig", "umgehend", "entschlossen", "so schnell wie möglich". Fünfmal soll etwas "verbessert" werden, zweimal "beschleunigt", außerdem "verstärkt", "um"- und "durchgesetzt".
Fünf Seiten umfasst der gemeinsame Brief von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande. Und wenn alles Wirklichkeit würde, was sich in dem Schreiben an EU-Kommission und Europäischen Rat an Vorschlägen findet, dann bleibt in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik kein Stein auf dem anderen. Selbst ein einheitliches europäisches Asylrecht schließen Deutschland und Frankreich nicht mehr aus.
Kernpunkt sind Forderungen nach gerechterer Verteilung
Doch das ist weit entfernte Zukunft. Zunächst geht es gerade für Merkel als Regierungschefin des wichtigsten Ziellands darum, die Flüchtlingspolitik der EU wieder in geordnete Bahnen zu lenken - und ein Chaos zu beseitigen, an dessen Entstehung auch die Bundesregierung beteiligt war. Es ist eine Prüfung mit offenem Ausgang, die anders als die Finanzkrise nicht mit Geld allein zu lösen sein wird. Es geht um Menschen, Emotionen und Empfindlichkeiten. Und um den Zusammenhalt der europäischen Wertegemeinschaft.
Kernpunkte des Briefes sind die Forderungen nach gerechter Verteilung der Flüchtlinge in Europa. Dabei ist die Kanzlerin nach Informationen der Süddeutschen Zeitung bereit, neben Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft auch die Arbeitslosenzahl als Kriterium zur Berechnung eines Verteilerschlüssels hinzuzuziehen. Damit nimmt sie einen Vorschlag des spanischen Regierungschefs Mariano Rajoy auf. Zudem wollen Merkel und Hollande, dass die geplanten Aufnahmezentren in Griechenland und Italien "spätestens bis Jahresende voll einsatzfähig" sind.
Die Reaktionen auf die Pressekonferenz zu Beginn der Woche, in der die Kanzlerin ihre Prinzipien zwischen Humanität und Härte darlegte, reichten in Europa von Respekt und Bewunderung bis hin zu massiver Kritik. Deutschland gebe ein Vorbild ab, kommentierte die spanische Zeitung El Mundo. Die österreichische Presse konstatierte, Merkel habe sich - spät, aber entschlossen - zu Europas Krisenmanagerin aufgeschwungen und manche Kollegen damit beschämt.
Doch vor allem die Forderung nach verbindlichen Quoten provoziert viel Gegenwind. Viele osteuropäische Staaten lehnen das ab, obwohl zum Beispiel Ungarn weniger Flüchtlinge aufnehmen müsste als bisher. Die Regierungschefs aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei sprachen sich am Freitag in einer gemeinsamen Erklärung gegen verpflichtende Quoten aus.
Kritiker warnen davor, dass auch bei einer Quote viele Flüchtlinge in selbst gewählte Zielländer weiterreisen würden - etwa nach Deutschland. Merkel aber ist überzeugt, dass die Akzeptanz für eine großzügige Flüchtlingsaufnahme in Deutschland nur erhalten bleibt, wenn die EU ein Signal der Gemeinsamkeit und der Fairness sendet. "Es kann nicht sein, dass vier oder fünf Länder die ganze Last tragen", sagte sie am Freitaga bend in Essen.
Schwere Krise zwischen Berlin und Budapest
Noch mehr Ärger hat sich die Bundesregierung mit ihrem Umgang mit syrischen Flüchtlingen eingehandelt. Eine Woche vor Merkels Auftritt war eine interne Anweisung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bekannt geworden: Syrische Kriegsflüchtlinge sollten bis auf Weiteres nicht mehr in die Erstaufnahmestaaten zurückgeschickt werden. Hintergrund: Man wollte in der angespannten Lage keine Kräfte unnötig mit aufwendigen Verfahren binden. Die Praxis war nicht neu. Doch ihre Veröffentlichung wurde zu einer politischen Botschaft, die um die Welt ging - und von vielen Syrern als Einladung verstanden wurde.
In ihrer Pressekonferenz räumte Merkel ein, dass Ungarn nun damit zu kämpfen habe, "dass viele aus Syrien sagen: Lasst uns endlich nach Deutschland". Was die Kanzlerin "durch gute diplomatische Gespräche klarziehen" wollte, hat sich zu einer schweren Krise zwischen Berlin und Budapest entwickelt. Am Freitag telefonierte Kanzleramtsminister Peter Altmaier mit dem ungarischen Botschafter.
In der Nacht zum Samstag sind indes Tausende Flüchtlinge aus Ungarn in Österreich angekommen, nachdem die österreichische Regierung ihnen ebenso wie Deutschland die Einreise gestattet hatte. Ihre Ausreise in Bussen hatte die ungarische Regierung organisiert - ausnahmsweise, wie Regierungssprecher Zoltan Kovacs sagte.