Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskrise:Merkels Entschluss verlangt historische Anstrengungen

Es kommen viel mehr Menschen, als die Kanzlerin sich bei ihrer Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen gedacht haben mag. An ihrer Richtigkeit ändert das nichts. Nun aber braucht Merkel das ganze Land.

Kommentar von Heribert Prantl

In Zigtausenden Kommentaren ist der Kanzlerin vorgehalten worden, sie tue nicht, was ein Kanzler tun muss: Sie führe nicht, sondern lasse die Dinge treiben. Immer und immer wieder ist sie kritisiert worden, dass sie nicht mache, was das Grundgesetz verlangt. Dort steht, in Artikel 65: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik." Das stimmt. Die Kanzlerin pocht nicht jeden Tag auf diese Kompetenz; sie tut es höchst selten. Sie hat es, nach dem Reaktorunglück von Fukushima, in der Atompolitik getan. Und sie hat es vor zehn Tagen in der Flüchtlingskrise getan. Die erste Entscheidung war bedeutend. Die zweite ist historisch.

Die Richtigkeit und Historizität ihrer Entscheidung wird nicht dadurch diskreditiert, dass es Umsetzungsschwierigkeiten gibt. Sie wird auch nicht dadurch falsch, dass sehr viel mehr Flüchtlinge kommen, als es sich die Kanzlerin in der entscheidenden Nacht gedacht haben mag. Nicht Angela Merkel hat die Flüchtlingskrise ausgelöst; sie war längst vorher da. Fast die gesamte deutsche Politik hat diese Krise bis dahin nicht zur Kenntnis nehmen wollen.

Die deutsche Politik war, Kanzlerin inklusive, damit zufrieden, dass die Flüchtlinge anderswo waren. Die deutsche Politik war darauf angelegt, Kerneuropa (und vor allem Deutschland als Kern des Kerns) vor Flüchtlingen möglichst zu verschonen. Den allergrößten Teil der Flüchtlinge hatten viele Jahre lang nicht Deutschland, sondern die europäischen Frontstaaten aufzunehmen, Griechenland und Italien vor allem. Das war der Sinn der Dublin-Verordnungen. Das war wenig solidarisch, hat aber lange im deutschen Sinne funktioniert. Angesichts der Kriege im Nahen und Mittleren Osten funktionierte das nun nicht mehr. Das Dublin-System brach unter den hohen Flüchtlingszahlen zusammen. Die deutsche Politik hoffte bis zuletzt vergebens, dass es wieder gefestigt werden könne. Indes: Dublin ist perdu. Es wird einige Zeit dauern, neue Regeln zu finden.

Grenzkontrollen sind kein Rückzieher

Die temporäre Wiedereinführung der Grenzkontrollen ist keine Rücknahme der Entscheidung für die Aufnahme von Flüchtlingen; sie war erstens der Versuch, Druck auf andere EU-Länder auszuüben; sie ist zweitens der Versuch, Flüchtlingen klarzumachen, dass es noch andere Aufnahmeländer gibt als Deutschland. Und sie ist drittens der Versuch, Zeit zu gewinnen, um eine national funktionierende Logistik für die Flüchtlinge aufzubauen.

Der Generalplan für die Aufnahme, Verteilung und Integration von Flüchtlingen in Deutschland und Europa fällt nicht über Nacht vom Himmel. Aber an diesem Plan muss mit Kraft, Herz und Verstand gearbeitet werden. Daran fehlt es. Und das ist der Richtlinienkompetenz zweiter Teil: Historische Entscheidungen verlangen historische Anstrengungen. Es reicht nicht, wenn die Kanzlerin ihre Entscheidung mit ungewohnter Verve verteidigt; sie braucht ihre Minister, sie braucht die Gesellschaft dieses Landes, sie muss Verwaltung, Industrie und Wirtschaft gewinnen; dazu die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände - die Menschen. Sie braucht das ganze Land.

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Quelle:
SZ vom 16.09.2015
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