Flüchtlingskrise:Jagd nach Schatten

Turkish Coastal Guard search and rescue operations for refugees i

Die Anthologien zeigen Einzelschicksale, die Fluchtrouten wiederholen sich. Die türkische Küstenwache hindert im Winter 2015 ein Flüchtlingsboot daran, die griechische Insel Chios zu erreichen.

(Foto: Tolga Bozoglu/dpa)

In Ceşme zeigt sich, dass die Türkei es ernst meint mit dem verstärkten Grenzschutz. Die Küsten werden mit moderner Technik überwacht - die Schlupflöcher immer kleiner.

Von Mike Szymanski, Çeşme

Die Geisterstadt füllt sich. Es ist kurz vor fünf Uhr am Nachmittag. Die Sonne geht unter. Jetzt kommt Bewegung in die Hügel am Strand von Çeşme. Schatten huschen zwischen den Mastix-Sträuchern auf Trampelpfaden entlang. Sie wollen zurück in die Häuser, aus denen sie am Morgen von der Polizei wieder vertrieben worden sind. Halb fertige Bungalows stehen hier, Rohbauten für ein Feriendorf. Die nackten Mauern bieten Schutz, wenn der Wind über die Küste kommt und sich sieben Grad wie Eis auf der Haut anfühlen.

Dieser Wind! Heute Nacht geht jedenfalls wieder nichts, sagt Nasri. Er ist einer der Schatten. Nasri, ein schmaler Junge, der in einer viel zu dünnen Daunenjacke auf einer Anhöhe steht, hat gelernt, das Meer zu lesen. "Zu riskant, in dieser Nacht überzusetzen", sagt er. Nasri ist erst 16. Sein Vorname muss genügen. Die Zukunft will sich der Afghane nicht verbauen, weil er unvorsichtig geworden ist. Einmal hat die türkische Polizei ihn schon geschnappt. Das war vor einem Monat. Da hat sie ihn und andere Flüchtlinge von der Küste am Mittelmeer wegbringen lassen. Zurück nach Istanbul. Er ist zurückgekommen, nach Çeşme, dieser kleinen türkischen Hafenstadt mit 35 000 Einwohnern und den schönen Stränden.

Bei gutem Wetter kann man abends auf der anderen Seite des Meeres Lichter sehen. So nah dran ist die griechische Insel Chios. Sieben, vielleicht acht Kilometer bis Europa. Es sieht so leicht aus. Aber als ob das Meer hätte sagen wollen: "Täuscht euch nicht!", hat es an den Tagen zuvor wieder Frauen- und Kinderleichen am Strand nicht weit von hier entfernt abgelegt. Anfang der Woche sind zwei Flüchtlingsboote gekentert. Mindesten sechs Kinder aus Afghanistan ertranken. Einige Flüchtlinge werden noch vermisst. Nasri fragt: "Was ist besser: jeden Tag zu sterben oder einmal?"

Am Strand von Çeşme ist ein bitter ernstes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Flüchtlingen und türkischen Behörden zu beobachten, das gerade auf eine Entscheidung zuzulaufen scheint. Es sind bald zwei Wochen vergangen seit die Türkei der EU versprach, die Grenzen zur EU besser zu schützen. Dieses Jahr sind fast 800 000 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland gelangt. Plötzlich ist es nicht mehr so leicht, übers Meer abzuhauen. An der Landstraße steht mit Einbruch der Dunkelheit ein Wagen der Gendarmerie, das Blaulicht angeschaltet wie zur Warnung an Menschenschmuggler: Versucht es erst gar nicht!

Auch sonst versucht man sie zu abzuschrecken: In Istanbul verlangten Staatsanwälte am Donnerstag bis zu 35 Jahre Haft für die mutmaßlichen Schleuser wegen des Tods des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan. Draußen, in einer verlassenen Ferienanlage bei Çeşme trifft man einen Gärtner, der inmitten des Flüchtlingsdramas Bäume zurückschneidet. "Die Lage ist nicht zu vergleichen mit der vor zwei Wochen", erzählt er. "Die meisten Flüchtlinge haben es aufgegeben, von hier Griechenland zu erreichen." Die Polizei sei besser geworden. Es passiere nicht mehr, dass Beamte einen Posten räumten, ehe die Ablösung da sei. Wenn er nun abends mit dem Auto ins Zentrum fährt, kann es passieren, dass die Polizei ihn stoppt und mit Taschenlampen ins Innere leuchtet. Mehrere Tausend Flüchtlinge haben die Behörden seit Monatsbeginn ins Landesinnere zurückgebracht.

Wie zur Abschreckung patrouilliert die Küstenwache mit einem ihrer modernsten und größten Such- und Rettungsschiffe vor der Küste von Çeşme, die Umut. Das heißt: Hoffnung. Das Schiff hat dieses Jahr 3700 Menschen aus dem Meer gefischt, die mit ihren Schlauch- und Holzbooten zu kentern drohten oder bereits untergegangen waren. Seit Anfang 2015 läuft die Operation "Aegean Hope", fast die Hälfte ihrer Schiffe hat die Küstenwache jetzt entlang der Hunderte Kilometer langen Küste im Einsatz und 1200 Männer und Frauen. Und das nicht erst seit dem Versprechen an die EU. Fast 85 000 Migranten und Schleuser griff die Küstenwache 2015 auf. 2014 waren es 15 000. Die Küsten werden mit Radar überwacht, Hubschrauber fliegen die Ufer ab. Die Schlupflöcher werden kleiner.

Im Hafen von Çeşme trifft man Dschafer, 40 Jahre alt. Er ist aus Afghanistan geflohen, hat noch die Rettungsweste um, obwohl er nun schon einige Zeit im Hafen an Land steht. In der Nacht hat die Küstenwache sein Boot gestoppt. Drei Kilometer hatten sie schon geschafft. Dann war Schluss für ihn, seine Verwandten und Freunde. 30 Leute seien sie gewesen, das Boot hätten sie selbst gekauft. Schleuser trauten sich nicht mehr, erzählt Dschafer. "Ich kenne manche, die es schon zum zweiten und dritten Mal versuchen." Groll auf die Küstenwache hat aus ihrer Gruppe keiner. Die Kinder haben von der Besatzung Säfte und Schokoriegel bekommen. Alle wurden versorgt. Gleich werden sie zu einem Reisebus gebracht, der sie wegbringt. Vorbei ist ihre Reise noch nicht.

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