Flüchtlingskrise:Im Griff der Angst

Grenzkontrollen auf der A8

Eine syrische Familie wird an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland kontrolliert.

(Foto: dpa)

In Ungarn und Österreich hat Panik die Flüchtlinge erfasst. Sie fürchten, dass sie doch noch scheitern könnten.

Von Cathrin Kahlweit und Nadia Pantel

Am Kopf der Rolltreppe steht ein Polizist, unten drängen sich hundert schweigende Menschen und schauen zu ihm hoch. Auf Gleis 1 am Salzburger Hauptbahnhof fährt in wenigen Minuten ein Zug nach München ein, nur zusteigen darf keiner. "Schon voll", lautet die Ansage.

Ein junger Mann klettert auf eine Empore vor einem der Bahnhofscafés und übersetzt auf Arabisch in ein Megafon, was ihm der Polizei-Einsatzleiter aufgeschrieben hat. Vorerst keine Weiterfahrt Richtung Deutschland, bitte alle zurück in die Garage. Wo unterm Bahnhof Salzburg sonst die Autos parken, haben in den vergangenen Tagen knapp tausend Flüchtlinge Unterschlupf gefunden. Die meisten von ihnen wollen weiter nach Deutschland oder Schweden, wann sie Österreich verlassen können, wissen sie indes nicht.

Für die, die es bereits auf den Zug geschafft hatten, ist der erste Halt auf deutscher Seite Freilassing. Vor dem Bahnhof parken Dutzende blaue Mannschaftswagen der Polizei, leere Reisebusse fahren vor. Wer kein Visum hat und sich nicht als Bürger des Schengen-Raums ausweisen kann, wird aus dem Zug geholt.

Es dauert nur zehn Minuten, und auf dem Bahnsteig sammeln sich 250 Menschen, die von der Polizei hinter ein weiß-rotes Absperrband gewiesen werden. Eine Irakerin, die in Freilassing lebt, bietet Übersetzungshilfe an. "Natürlich kommen die meisten hier aus Syrien", sagt sie.

60 000 Flüchtlinge in Ungarn, 30 000 in Serbien

Insgesamt 500 Flüchtlinge warten den Vormittag über, bis sie gegen 13 Uhr mit Bussen zur polizeilichen Registrierungsstelle gefahren werden. Die befindet sich im 1,5 Kilometer entfernten Piding. "Wir halten uns an geltende Gesetze", sagt Polizeioberrat Ludger Otto aus Rosenheim, der den Einsatz an der Grenze koordiniert, "und die sehen auch im Schengen-Raum vor, dass man jederzeit prüfen kann, ob Personen die Einreisebedingungen nicht erfüllen." Doch wer Asyl begehrt, wird erst einmal registriert - und kommt in eine Aufnahmeeinrichtung.

Während Tausende an der Grenze zu Deutschland ausharren und mit Glück erst einmal ins Sehnsuchtsland einreisen können, herrscht im restlichen Österreich mittlerweile nackte Panik. Bisher waren die vielen Tausenden, die Zehntausenden, die kamen, immer durchgereist.

Aber das kleine Land liegt bekanntlich zwischen Ungarn und Deutschland, und weil Ungarn spätestens am Dienstag seine Grenzen nach Süden dichtmachen will, drängen diejenigen, die auf der Balkanroute unterwegs sind, nach Österreich hinein. Allein 20 000 Menschen waren daher am Montag in Österreich unterwegs. Bankfilialen, Kirchen, Betriebsgelände, Züge wurden zu Notschlafstellen umfunktioniert.

Alle Flüchtlinge, die nachdrängen, so fürchten sie in Wien, könnten in Österreich landen, weil die Deutschen nun an der Grenze kontrollieren. So abwegig ist das nicht: Am Montag räumte die Budapester Regierung angeblich das überfüllte Lager Röszke in Südungarn.

Bis zu 60 000 Menschen, so genau kennt die Zahl niemand, sollen derzeit aus ganz Ungarn Richtung österreichische Grenze unterwegs sein oder in Bussen und Bahnen gebracht werden. Und aus Serbien sind nach letzten Meldungen noch einmal 30 000 auf dem Weg, die es in letzter Minute nach Ungarn und dann weiter schaffen wollen.

Denn Dienstag, null Uhr, tritt das verschärfte ungarische Grenzregime in Kraft. Die Polizei wurde in Bereitschaft versetzt, Militär an die Südgrenze abgeordnet. Beobachter aus Röszke berichten, mitten in der Nacht zum Montag seien Dutzende Busse vorgefahren.

Ein ORF-Reporter meldet ironisch: "So gut organisiert waren die ungarischen Behörden hier noch nie." Aktivisten der Hilfsorganisation Migration Aid berichten, die Einsatzkräfte schickten Flüchtlinge in Sonderzügen zum ungarisch-österreichischen Grenzort Hegyseshalo, 400 Kilometer quer durch Ungarn.

"Wir waren bisher solidarisch im Weiterwinken der Flüchtlinge nach Deutschland"

Am Montag reagierte dann auch Wien auf den wachsenden Druck, den Außenminister Sebastian Kurz so zusammenfasste: "Wir waren bisher solidarisch im Weiterwinken der Flüchtlinge nach Deutschland. Jetzt müssen wir identisch so reagieren wie Deutschland. Wenn wir die Grenzen offen lassen, kommen jeden Tag 10 000 Menschen, die bleiben." Österreich sei nun mal das "letzte attraktive Ziel vor Deutschland".

Das Kabinett beschloss den sogenanten Assistenzeinsatz des Bundesheers: 2200 Soldaten sollen die Polizei bei Grenzkontrollen unterstützen. Man will zwar verstärkt kontrollieren, die Grenzen aber nicht komplett dichtmachen. Die Soldaten sollen nicht nur die Grenze vom Burgenland nach Ungarn kontrollieren. Die Regierung in Wien rechnet auch mit "verstärkten Flüchtlingsbewegungen an der Grenze zu Slowenien".

Allein in der Nacht zum Montag waren am Grenzort Nickelsdorf bei Wien etwa 10 000 Flüchtlinge angekommen. Tausende trafen im Laufe des Tages im südburgenländischen Heiligkreuz ein, sie kamen über die grüne Grenze am Neusiedler See. Dort sind neue Kurzzeit-Camps entstanden. Offenbar haben sowohl die ungarische Regierung mit ihren Transporten als auch professionelle Schlepper darauf reagiert, dass die Lager weiter nördlich überlastet sind - und die Kontrollen an der Grenze verschärft werden.

Politisch zeigt sich die große Koalition in Wien entschlossen, es Deutschland gleichzutun. Für Österreich gelte: Kontrollen ja, aber das Asylrecht werde nicht außer Kraft gesetzt, so Kanzler Werner Faymann (SPÖ). Österreich - und das kann getrost als Spitze gegen Budapest gelesen werden - werde alles dafür tun, dass die EU das Friedensprojekt bleibe, für das es einst den Nobelpreis bekommen habe.

Die FPÖ will Österreich dichtmachen

Die rechtspopulistische FPÖ sieht das allerdings grundlegend anders: Sie plant ein Misstrauensvotum gegen die Regierung, eine Einberufung des nationalen Sicherheitsrats wegen "Gefahr im Verzug" - und die umgehende Schließung aller Landesgrenzen. Auch Österreich soll dichtmachen.

Das Friedensprojekt Europäische Union, an das Faymann erinnert, ist ganz offensichtlich stark gefährdet. Der "Rückstau", vor dem man sich derzeit in Österreich so fürchtet und der letztlich Teil einer ganzen Kette von Rückstaus ist, reicht bis hinein in die arabische Welt. Jeder Staat würde die Verantwortung für die Flüchtlinge am liebsten an die jeweiligen Nachbarn weitergeben - oder hat sie, wie Ungarn, Griechenland, Italien, längst weitergegeben.

Nun wankt seit Wochenbeginn auch das Schengen-Abkommen. Nach Deutschland und Österreich hat am Montag Tschechien ebenfalls Grenzkontrollen eingeführt. In Prag hat man die Sorge, dass Flüchtlinge versuchen werden, Tschechien nach Bayern zu durchqueren. Auch die Slowakei kontrolliert; Polen plant Kontrollen. In Slowenien bereitet man sich schon auf deutlich mehr Flüchtlinge vor, die nun verstärkt über Kroatien nach Norden kommen werden.

Immerhin: Der 15. September, an dem Ungarn seine Grenze nach Süden abschotten will, ist ein Datum mit Ansage. An die Wirkung des Zauns hatte niemand so recht geglaubt, als der Bau der doppelten Sperranlage begann. Aber dann kündigte die Regierung in Budapest an, den Zaunbau mit weiteren drakonischen Maßnahmen wie Haftstrafen und Militäreinsatz zu begleiten. Kanzleramtsminister János Lázár hat angekündigt, man werde am Dienstag auch über die Ausrufung des Notstandes beraten.

So könnte Premier Viktor Orbáns Plan aufgehen, dass zumindest Ungarn sein Flüchtlingsproblem fürs Erste gelöst hat. Wer durchgekommen ist, sucht sein Glück in Nord- und Westeuropa. Wer es weiter versuchen will, nimmt eine neue Route. Der Rest? Strandet mutmaßlich erst einmal in Serbien.

Der serbische Arbeitsminister Aleksandar Vulin hat im Standard angekündigt, dass sein Land vorläufige Aufnahmelager an der Nordgrenze errichten wolle. Allein aber, und diese Botschaft werden die Regierung in Wien und Berlin schon verstehen, allein könne Serbien die hohen Flüchtlingszahlen nicht bewältigen.

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