Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskrise:Gabriel rechnet mit einer Million Flüchtlinge - Österreich setzt Bundesheer ein

  • Vizekanzler Sigmar Gabriel rechnet mit einer Million Flüchtlinge bis Ende diesen Jahres.
  • Österreich mobilisiert Soldaten, um humanitäre Hilfe zu leisten und die Grenze zu Ungarn zu kontrollieren.
  • Grenzkontrollen zwischen Österreich und Deutschland sorgen für Staus.
  • Züge mit Ausnahme der Strecke Salzburg-München fahren wieder.
  • Am Münchner Hauptbahnhof beruhigt sich die Lage.

Österreich führt verstärkte Grenzkontrollen ein

SPD-Chef Sigmar Gabriel rechnet für das laufende Jahr mit der Ankunft von einer Million Flüchtlinge in Deutschland. Vieles spreche dafür, dass die bisherige Prognose der Bundesregierung von 800 000 Flüchtlingen im Jahr 2015 nicht zu halten sei, schrieb Gabriel in einem Brief an die SPD-Mitglieder.

Österreich will zur Bewältigung des Flüchtlingsandrangs aus Ungarn das Militär einsetzen. 2200 Mann sollten vor allem humanitäre Hilfe im Inneren leisten, sagte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) in Wien. Die Soldaten sollten jedoch auch an der Grenze eingesetzt werden und die Polizei bei Kontrollen unterstützen. Das Asylrecht müsse jedoch weiter gewährleistet sein, sagte Faymann.

Mehrere Hundert Beamte im Einsatz

Wegen des Flüchtlingsandrangs wird an der Grenze zwischen Deutschland und Österreich bereits seit Sonntagabend wieder kontrolliert.

Die Bundespolizei stellte mehrere Hundert Beamte ab, wie ein Sprecher in Potsdam sagte. Seit Wiedereinführung der Grenzkontrollen am späten Sonntagnachmittag sind nach Polizeiangaben Dutzende Schleuser festgenommen worden. Allein in Passau seien mehr als 30 Schleuser verhaftet und etwa 100 Flüchtlinge aufgegriffen worden, sagte der Sprecher der Bundespolizeiinspektion Freyung.

Auf der Autobahn 8 bei Bad Reichenhall standen die Fahrer am Morgen auf einer Länge von rund drei Kilometern. Auf der Autobahn 3 bei Passau waren es dem Bayerischen Rundfunk zufolge sechs Kilometer. Die Straßen waren nach Angaben der Bundespolizei auf eine Spur verengt worden, um die am Sonntag verfügten Grenzkontrollen durchzuführen.

Bayerns Innenminister rechnet damit, dass Kontrollen Wochen anhalten

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) machte deutlich, dass die Kontrollen bis auf Weiteres aufrechterhalten würden. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann rechnet damit, dass die wiedereingeführten Grenzkontrollen mindestens einige Wochen dauern. Es müsse stärker kontrolliert werden, weil "viele unterwegs sind, die keine wirklichen Flüchtlinge sind", sagt der CSU-Politiker dem BR.

Auch in Sachsen laufen Vorbereitungen für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. "Die Vorgaben sind, dass der illegale Grenzübertritt vermieden werden soll", sagte Innenminister Markus Ulbig (CDU) am Montag dem Radiosender MDR-Info. Sachsen steht nach Angaben von Ulbig unter anderem in engem Kontakt mit dem tschechischen Innenministerium, das den Freistaat informieren soll, wenn Flüchtlinge wegen der Einschränkungen in Bayern ihre Reiseroute ändern.

Der Zugverkehr zwischen Deutschland und Österreich wurde am Morgen wiederaufgenommen. Ausgenommen ist zunächst die Strecke zwischen Salzburg und München. Dort befänden sich Menschen auf den Bahngleisen, weshalb hier noch nicht gefahren werden könne, sagte ein Sprecher der Deutschen Bahn in Berlin.

De Maizière spricht von "Signal an Europa"

Bundesinnenminister de Maizière wies in der ARD aber Mutmaßungen zurück, dass die Grenzkontrollen eine Abkehr von Europa seien und das Ende des Schengen-Systems bedeuten könnten. Es sei vielmehr ein "Signal" an Europa, um auch beim EU-Innenministertreffen am Montag in Brüssel in der Frage der Verteilung der Flüchtlinge weiterzukommen.

Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) forderte im Tagesspiegel, bei dem Treffen müsse durch die Verteilung von 160 000 Flüchtlingen auf alle EU-Staaten der Druck von Deutschland genommen werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Regierungskreisen zufolge angesichts der Flüchtlingskrise die für Dienstag geplante Kabinettsklausur ab. Stattdessen werde es ab 18 Uhr ein Treffen mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer geben.

Keine neuen Ankünfte am Hauptbahnhof in München

In der bayerischen Landeshauptstadt zeigte die Einführung von Grenzkontrollen und der vorübergehende Stopp von Zugverbindungen Wirkung. Einem Sprecher der Bundespolizei zufolge sind seit Mitternacht nur vereinzelt Flüchtlinge in München angekommen. Diese seien mit anderen Verkehrsmitteln als mit der Bahn unterwegs gewesen.

Am Morgen liegt ein Flatterband der Polizei zerfetzt am Boden, es wird nicht mehr gebraucht. Der abgeriegelte Bereich am Starnberger Flügelbahnhof ist verwaist. Kein Polizist sichert das Gitter, nur eine Helferin stapelt ein paar Kekse am Eingang zur alten Schalterhalle. Am Vorplatz des Bahnhofs, wo am Sonntag 7100 Flüchtlinge in Busse stiegen, die sie weiter in Unterkünfte brachten, das gleiche Bild: Nirgends sind Sondereinsatzkräfte der Polizei zu sehen, drei Münchner Beamte schlendern über den abgesperrten Vorplatz.

An den Bahnsteigen stehen noch vereinzelt Polizisten, ein junger dunkelhäutiger Mann mit Sakko und Sonnenbrille im Haar wird kontrolliert. Entspannt zeigt er seine Papiere, er darf passieren. Am Hauptbahnhof ist vorerst Ruhe eingekehrt, was der Tag noch bringt, weiß momentan nicht einmal die Regierung. "Ich kann überhaupt keine Prognose abgeben", so der Sprecher der Bundespolizei.

Allein am Münchner Hauptbahnhof waren am Wochenende etwa 20 000 neue Flüchtlinge über Österreich und Ungarn angekommen. Der von den Behörden befürchtete Kollaps blieb zwar zunächst aus, die Lage ist aber überaus angespannt. Seit Ende August wurden in der Stadt 63 000 Flüchtlinge gezählt und damit weit mehr als der Freistaat Bayern im Jahr 2014 insgesamt aufnahm.

Zehntausende Flüchtlinge erreichen Österreich und Ungarn

In Österreich gibt es nach Angaben der Regierung weiterhin keine Grenzkontrollen wie an der deutsch-österreichischen Grenze. Gemäß dem Schengen-Abkommen würden die Behörden lediglich stichprobenartig kontrollieren, sagte eine Sprecherin von Bundeskanzler Werner Faymann.

Der Zustrom von Flüchtlingen aus Ungarn nach Österreich hält unvermindert an. Seit Mitternacht hätten bis zu 7000 Menschen die Grenze am Übergang in Nickelsdorf überquert, sagt ein Sprecher der Polizei Burgenland.

Am Sonntag hätten 14 000 Menschen die Grenze überquert, sagte ein Sprecher der Polizei Burgenland. Die Menschen würden auf Quartiere im Umland verteilt.

In Ungarn hat die Zahl der Flüchtlinge einen neuen Rekord erreicht. Am Sonntag seien 5809 Menschen und damit so viele wie noch nie an einem Tag ins Land gekommen, teilte die ungarische Polizei mit. Der vorherige Rekord war erst am Samstag mit 4330 Neuankömmlingen aufgestellt worden.

Vor Inkrafttreten der verschärften ungarischen Einwanderungsgesetze am Dienstag waren die Flüchtlingszahlen zuletzt immer weiter angestiegen. Die neuen Gesetze sehen unter anderem Haftstrafen für Menschen vor, die illegal in das EU-Land einreisen. Überdies soll die Grenze zu Serbien hermetisch abgeriegelt werden.

Mit Informationen von SZ-Reportern vor Ort.

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