Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskrise:Die Tücken stecken im Detail

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EU und Türkei wollen beim EU-Gipfel eine Vereinbarung zur Lösung der sich verschärfenden Flüchtlingskrise treffen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Am Freitag, dem zweiten Tag des EU-Gipfels in dieser Woche, ist Endspiel. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu ist in Brüssel zu Gast. Geplant ist der Abschluss einer umfangreichen Vereinbarung, die bisher nur im Grundsatz steht. Über die Details der Kooperation zur Lösung der Flüchtlingskrise laufen intensive Verhandlungen zwischen Brüssel, Berlin und Ankara. Viele praktische und rechtliche Fragen sind noch zu klären. Derweil kritisieren Politiker aller Lager und Menschenrechtler den Deal weiterhin vehement. Ein Überblick.

Die Rolle der Visa-Liberalisierung

Sie ist von allen Preisen, welche die EU in dem komplexen Gegengeschäft mit Ankara bezahlen muss, der höchste. Die freie Einreise für alle Türken in die EU soll schon im Juni kommen, deutlich früher als geplant. Viele befürchten, dass dann Hunderttausende Türken Arbeit in der EU suchen werden, es gibt Sicherheitsbedenken wegen Terroristen. Weil die Liberalisierung für die Türkei eine unerlässliche Bedingung darstellt, ist sie auch der stärkste Hebel in den Händen der EU. Mit ihr steht und fällt der Deal, deshalb heißt es, vorsichtig damit umzugehen. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, dass die Türkei alle Bedingungen erfüllt. Heikle Punkte sind der Datenschutz sowie der noch geltende Visumzwang für Zyprer in der Türkei. Mindestens so schwierig wird es, das nötige einstimmige Ja aller EU-Regierungen und eine breite Mehrheit im EU-Parlament dafür zu bekommen.

Darf in die Türkei abgeschoben werden?

Ja, wenn die Umstände stimmen: Zunächst gilt das "Non-Refoulement"-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention. Demnach ist die Abschiebung auf jeden Fall verboten, wenn dem Flüchtling im Zielland Folter oder andere unmenschliche Behandlung drohen. Diese Hürde nimmt die Türkei. Eine weitere Voraussetzung hat Griechenland erfüllt, indem es die Türkei als sicheren Drittstaat für (nicht-türkische) Flüchtlinge anerkennt. Nur dann könnten Flüchtlinge nach Identifizierung in die Türkei zurückgeschickt werden, wie es die Artikel 33 und 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie vorsehen. Dort steht auch, dass eine Einzelfallprüfung grundsätzlich möglich sein muss, die dann vor griechischen Gerichten auch angefochten werden könnte. Umstritten ist, inwieweit die Türkei die Flüchtlinge auch formal als solche anerkennen und behandeln muss. Die CSU wiederum fordert, die Türkei müsse auch die Bedingung erfüllen, sicheres Herkunftsland zu sein. So könnten türkische Flüchtlinge leichter abgeschoben werden. Ein Versuch der EU-Kommission war im Herbst am Widerstand einiger EU-Staaten gescheitert.

Und der "geografische Vorbehalt" der Türkei?

Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention bisher nur für Bürger aus Staaten ratifiziert, die dem Europarat angehören. Manche Völkerrechtler sehen darin ein Problem, andere (wie auch die EU-Kommission) nicht. Es reiche, wenn der betreffende Staat die einschlägigen "Gesetze und Praktiken" erfülle, schreibt Daniel Thym im Verfassungsblog. Jüngste Äußerungen seitens der Kommission lassen vermuten, dass die EU Ankara zu einer vollständigen Ratifizierung drängt, um auf der sicheren Seite zu sein. Die Legalität ist aber nur der eine Aspekt. Die Politik muss entscheiden und begründen (auch über den Freitag hinaus), inwiefern der gesamte Deal mit der Türkei legitim und geboten ist.

Das Eins-zu-eins-Verfahren

Die Türkei will alle neuen Flüchtlinge aus Griechenland zurücknehmen. Für jeden zurückgeführten Syrer soll ein anderer syrischer Flüchtling von der EU direkt aus der Türkei ausgeflogen werden. Offen ist, ob ein Syrer, der schon in Griechenland war, für die Umsiedlung gar nicht mehr infrage kommt, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Donnerstag sagte, oder ob er sich "ganz hinten anstellen" muss. In der EU und der Türkei heißt es, dass dieser Mechanismus nur einige Wochen in Kraft sein werde, solange bis allen Flüchtlinge und Schleusern klar sei, dass sich die Ägäis-Überquerung nicht mehr lohne. Neue Kontingente werden dafür vermutlich nicht gebraucht; man kann auf beschlossene Quoten für Umsiedlung und Umverteilung zurückgreifen.

Das Programm zur humanitären Aufnahme von Flüchtlingen

Es ist der zentrale Bestandteil des Deals. Ohne ihn würde die Türkei ja alle bisherigen und fast alle neuen Flüchtlinge beherbergen müssen. Deshalb werden in den kommenden Jahren vermutlich mehrere Hunderttausend syrische Flüchtlinge in die EU geflogen. Das wären viel weniger als bisher, und es stürbe nur das Geschäft der Schmuggler. Viele Details müssen geklärt werden. Die Grundzüge sind klar: Die Türkei trifft zusammen mit dem UNHCR eine Vorauswahl. Letztlich entscheiden aber die teilnehmenden EU-Staaten, wen sie aufnehmen. Alle wissen, dass es bei dem Prozess nicht zuletzt auf ein gewisses Tempo ankommt. Was die nicht-syrischen Flüchtlinge betrifft, bemüht sich die Türkei um Rückführungsabkommen mit diversen Staaten. Menschenrechtsgruppen berichten hier von wiederholten unrechtmäßigen Abschiebungen durch die Türkei.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2016
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