Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskrise:"Alle Kriegsparteien setzen Hunger als Waffe ein"

Wie soll man Menschen im Chaos des syrischen Bürgerkriegs ernähren? Ralf Südhoff vom UN-Welternährungsprogramm über die Schwierigkeit zu helfen.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Der syrische Bürgerkrieg dauert jetzt fünf Jahre. Mehrere Hunderttausend Menschen wurden getötet, mehr als sechs Millionen Syrer sind in die Nachbarländer und bis nach Europa geflohen, weitere Millionen sind im Land selbst auf der Flucht. Wie lassen sich diese Menschen versorgen? Ralf Südhoff ist Leiter des Berliner Büros des UN-Welternährungsprogramms (WFP).

SZ: Fast die Hälfte der Syrer ist innerhalb und außerhalb ihrer Heimat auf der Flucht. Ganze Stadtviertel liegen in Schutt und Asche. Zu Kämpfen kommt der Mangel an Nahrungsmitteln. Und auch die Flüchtlinge in den Nachbarländern müssen versorgt werden. Wie ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Ralf Südhoff: Wir versorgen innerhalb des Landes etwa vier Millionen Syrer regelmäßig mit Notrationen aus Mehl, Speiseöl, Nudeln, Salz, Zucker, Konserven, Babynahrung, die mit Hilfskonvois in zugängliche Orte geschafft werden. Dazu kommen insgesamt fast zwei Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern Jordanien, Libanon, Ägypten, Irak und der Türkei, die von uns Geldkarten bekommen, mit denen sie sich selbst Nahrungsmittel kaufen können.

Allein in der Türkei müssen sich allerdings fast alle Flüchtlinge, die sich dort nicht in Lagern aufhalten, selbst versorgen. Das sind weitere rund zwei Millionen. Im vergangenen Jahr mussten wir leider die Rationen und das Geld auf den elektronischen Gutscheinen kürzen, weil uns die Mittel ausgegangen waren. Zuerst um 20 Prozent; ab Juni dann sogar auf 50 Prozent dessen, was ein Mensch braucht, um zu überleben.

Ab Juni 2015 ist auch die Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind, extrem angestiegen. Wie sieht es jetzt in Syrien und den Nachbarländern aus?

Die Lage hat sich aus zwei Gründen deutlich verbessert. Im Herbst hat Deutschland die Hilfe für die Menschen in Syrien und den Nachbarstaaten sehr erhöht. Außerdem hat Deutschland allein auf der Geberkonferenz Anfang Februar in London für 2016 insgesamt 1,2 Milliarden Euro humanitäre Hilfe zugesagt, und angekündigt, davon allein dem WFP mehr als eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen. Wir können fast sechs Millionen Menschen deshalb seit März wieder die hundertprozentigen Notrationen zukommen lassen, die sie mindestens brauchen.

Alle Parteien setzen zugleich Hunger als Waffe ein. Wir konnten aber seit Anfang des Jahres - auch dank des Waffenstillstands - zwölf von 18 belagerten Städten mit Nahrungsmitteln versorgen, die wir vorher nicht erreicht haben. So konnten wir weiteren 150 000 Menschen helfen.

Aber alle Menschen erreichen Sie noch immer nicht.

Nein, in keinster Weise. Die Lage der Bevölkerung ist von Ort zu Ort extrem unterschiedlich. Nicht ganz Syrien ist völlig zerstört. In Damaskus leben die Menschen noch ein halbwegs normales Leben. Nur eine Autostunde entfernt, in Madaya, gab es aufgrund der Belagerung fast keine Nahrungsmittel mehr, die Leute waren völlig ausgehungert. Und es sind noch immer sehr, sehr viele Menschen von Hilfe abgeschnitten. Zum Teil wären hier höchstens Abwürfe aus der Luft eine Möglichkeit, die aber sehr schwierig sind, wenn sie kleine Stadtgebiete erreichen sollen. Und die Flugzeuge könnten abgeschossen werden. Wie es im sogenannten Islamischen Staat aussieht, darüber haben wir teils kaum Informationen.

Russlands Präsident Putin hat nun angekündigt, seine Truppen würden zum Großteil aus Syrien abziehen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit und die Versorgung der Menschen dort?

Die entscheidende Frage ist, ob es zu weniger Kampfhandlungen kommt. Die Luftangriffe haben weitere Zehntausende Menschen in die Flucht getrieben. Wenn sich das durch die Ankündigung und vor allem einen anhaltenden Waffenstillstand nun bessert, ist das eine sehr gute Nachricht für die Menschen vor Ort und auch für unsere Möglichkeiten, sie zu erreichen und Leben zu retten.

Wie konnte es so weit kommen, dass Sie im vergangenen Jahr die syrischen Flüchtlinge, die Sie erreicht haben, nicht ausreichend versorgen konnten?

Das hängt zum einen mit dem drastisch steigenden Bedarf an Hilfe zusammen, zum anderen damit, dass viele Regierungen anders als die Bundesregierung humanitäre Nothilfe heute immer noch vor allem als kurzfristige Hilfe verstehen. Etwa nach einem gelegentlichen Erdbeben oder einer Flutkatastrophe. Das entspricht aber nicht mehr der Realität. Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist in den vergangenen 15 Jahren explodiert. Die Schätzung der UN zum Bedarf der notwendigen globalen Hilfe lag im Jahr 2000 bei etwa zwei Milliarden Dollar. 2015 waren es rund zwanzig Milliarden.

Wie kommt das?

Das rührt daher, dass sich einerseits die Häufigkeit von Naturkatastrophen etwa verdreifacht hat. Noch wichtiger ist aber die Zunahme von Großkonflikten wie in Syrien, im Irak, im Jemen und dem Südsudan. 80 Prozent unserer Nothilfe geht inzwischen an die Opfer solcher Großkonflikte, die inzwischen im Schnitt mehr als sieben Jahre dauern - es geht also um langfristige Krisen und Hilfen.

Hier liegt heute der Kern der humanitären Arbeit. Wir müssen deshalb langfristig planen. Auf Syrien bezogen: Wenn wir unterstellen, dass im Januar 2017 noch drei Millionen Menschen unsere Hilfe brauchen und wir jetzt schon die entsprechenden finanziellen Zusagen bekämen, könnten wir entsprechende Verträge mit Händlern über Nahrungsmittel und Logistik machen. Dann könnten wir im Schnitt 30 Prozent der Kosten sparen. Nur dank langfristiger Planung.

Sie sagen, das WFP versorgt die Flüchtlinge außerhalb der Lager in der Türkei nicht. Was tun diese Menschen dann?

Viele mieten Räume in feuchten, verlassenen Baustellen, von denen es eine Menge gibt. Familien schicken ihre Kinder zur Arbeit, weil erwachsene Flüchtlinge in der Türkei wie in den meisten Ländern keine Arbeitserlaubnis haben. Ich habe Zehnjährige getroffen, die müssen ihre Angehörigen versorgen, indem sie als billige Kräfte zwölf Stunden in Fabriken arbeiten.

Sorgen sich die Menschen in Syriens Nachbarstaaten wegen der Flüchtlinge nicht um ihre eigenen Jobs?

Es ist sogar eine große Sorge der Türken, Libanesen und Jordanier, dass es nicht genug Arbeit gibt. Zugleich hoffen die Europäer, dass sie den Flüchtlingen nun eine Arbeitserlaubnis geben, damit diese sich selbst versorgen können. Aber in einem armen Land wie dem Libanon, wo auf vier Einheimische ein Flüchtling kommt, macht diese Vorstellung vielen Menschen Angst. Umso wichtiger ist die Unterstützung dieser Länder durch die Staatengemeinschaft.

Viele Flüchtlinge stecken inzwischen in Griechenland fest, da die Balkanroute geschlossen ist. Die Lage wird immer verzweifelter.

Tatsächlich sind wir derzeit in Gesprächen, ob wir nun nicht auch in Griechenland helfen müssen. In der Vergangenheit haben wir punktuell geholfen durch die Lieferung von Energiekeksen für Neuankömmlinge, jetzt eskaliert die Lage.

Wie würden sich Ihrer Meinung nach die Vorschläge der Türkei auswirken, die syrischen Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen, aber dafür im Gegenzug Syrer geregelt in die EU zu schicken und mehrere Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe zu kassieren?

Wenn die Hilfen in der Türkei ausgeweitet würden, dann wäre das sehr gut. Vor allem Familien, die nicht in den Lagern leben und bislang kaum Unterstützung haben, könnten wir oder andere Helfer zum Beispiel mit unseren Geldkarten helfen. Sie hätten dann überhaupt eine Chance zu bleiben statt nach Europa zu gehen. Und eine kontrollierte Migration könnte gerade den Menschen in der allergrößten Not helfen, weil ihre letzten Ersparnisse verbraucht sind, weil sie sich gar keine Schlepper leisten können. Die Frage ist natürlich, welche europäischen Länder bereit wären, diese Flüchtlinge aufzunehmen.

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