70 Jahre Flüchtlingskonvention:"Einige Länder wollen die Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen infrage stellen"

Prominent Australians Discuss Human Rights Challenges Facing The Country

Gillian Triggs, stellvertretende Hochkommissarin für Flüchtlinge des UNHCR, fürchtet, dass einige Länder den Flüchtlingsschutz infrage stellen wollen.

(Foto: Brendon Thorne/Getty Images)

70 Jahre ist die Genfer Flüchtlingskonvention alt. Gillian Triggs vom UNHCR, stellvertretende Hochkommissarin für Flüchtlinge, hält sie für so bedroht wie nie. Im Interview spricht sie außerdem über das Erbe von Angela Merkel und Corona als Ausrede.

Von Andrea Bachstein

Am 28. Juli wird die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), das "Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen" 70 Jahre alt. Die australische Juristin Gillian Triggs, 75, ist stellvertretende UN-Generalsekretärin und als stellvertretende Hochkommissarin für Flüchtlinge des in Genf ansässigen UNHCR eine der Hüterinnen der GFK.

SZ: Wie blicken Sie auf die Flüchtlingskonvention 70 Jahre nach ihrer Entstehung?

Gillian Triggs: Das zentrale Prinzip ist, dass jeder das Recht hat, Asyl zu erbitten, auch wenn nicht jeder die Rechtsdefinition eines Flüchtlings erfüllt. Das andere Prinzip ist, dass keiner je dahin zurückgewiesen wird, wo Gefahr oder Verfolgung drohen. Es war eine sehr einfache Idee, welche die 26 Gründungsländer der Konvention anzog.

70 Jahre später trifft es einen sofort, dass wir 82,4 Millionen Vertriebene und international Schutzsuchende weltweit haben. Das bringt Leute wie mich dazu innezuhalten und zu fragen: Was wurde erreicht? Einige würden sagen, wenig - angesichts so dramatisch gestiegener Zahlen. Aber die Konvention hat Millionen Menschen das Leben gerettet. Allein das macht ihren Wert aus. Jedoch steht die Konvention vor großen Bedrohungen, die wir so wohl noch nie erlebt haben.

Worin bestehen diese Bedrohungen?

Zum Teil in der Covid-Pandemie. Auch wenn es nicht der wichtigste Punkt ist. Vorbehalte wachsen gegenüber Migration und dem Mix von Migranten und Flüchtlingen, der künftig häufiger wird.

Hinter der Entstehung der GFK stand eine zutiefst humanitäre Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Nun gibt es Konflikte auf der ganzen Welt, von denen einige offenbar unlösbar sind. Und wir sehen, dass einige Länder die Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen infrage stellen wollen. Oft tun das populistische Politiker, indem sie sagen, es handele sich vor allem um Wirtschaftsmigranten, die illegal handeln.

Minister sagen mir stets, dass sie die Prinzipien zum Flüchtlingsschutz respektieren. Zugleich werden Zehntausende an Grenzen zurückgewiesen, manchmal mit Gewalt. Und in vielen Ländern wachsen Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit. Das gefährdet die Grundprinzipien unserer Arbeit.

Auch europäische Länder betreiben an ihren Grenzen widerrechtlich Zurückweisungen, sogenannte push-backs. Ist die GFK ein zahnloser Tiger? Es gibt keine Sanktionen bei Verstößen.

Ich halte sie nicht für einen zahnlosen Tiger. Die GFK ist eine rechtliche Verpflichtung. Und zumindest im Prinzip erkennt das fast jedes Land an. Als Anwältin für Internationales Recht weiß ich, dass normative Prinzipien signifikanten Einfluss auf Gemeinschaften haben. Aber diese normative Kraft der Konvention ist dabei, geschwächt zu werden.

Zunehmend tragen Klimafaktoren dazu bei, dass Menschen Gebiete verlassen. Könnte das der Konvention hinzugefügt werden? Oder rührt man sie besser nicht an, weil es keine Mehrheit geben würde?

Der Klimawandel besorgt den UNHCR sehr. Wenn die Pandemie weltweit im Griff ist, ist Klimawandel das Problem, das wir angehen müssen. Die Chance, eine Mehrheit zu finden für einen Zusatz zur GFK, ist politisch sehr gering. Deshalb arbeiten wir pragmatisch. 2018 entstand mit Unterstützung der Obama-Regierung die New Yorker Erklärung, die zum UN-Flüchtlingspakt (Global Compact on Refugees) führte. Der Flüchtlingspakt nimmt im Grundsatz eine neue Idee auf: die gerecht verteilte Verantwortungslast.

Leider haben einige Länder die Pandemie als Tarnung dafür benutzt, dass sie es nicht geschafft haben, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Das ist enttäuschend. Meine Sorge ist, dass einige Beschränkungen nach Covid bleiben.

Kommen wir nochmal zu Klimawandel und Flucht.

Ein Grund für zunehmende Fluchten in der Sahel-Region, in Burkina Faso, Mali, Niger und anderswo, sind verschlechterte Umweltbedingungen: Verarmung der Böden, Dürren durch Klimawandel. Das führt zu örtlichen Verteilungskonflikten. Terrorgruppen wie Al Shabaab nützen die Lage und ihre Ursachen aus, das führt zu weiterer Gewalt.

Klimawandel ist ein Fluchtgrund, auch wenn es keine klassische Flüchtlingssituation ist. Das UN-Menschenrechtskomitee hat akzeptiert, dass mit steigendem Meeresspiegel im Pazifik und Ländern, die unter diesen Bedingungen ihre Bürger nicht schützen können, es möglich werden könnte, dass jemand deshalb Flüchtlingsschutz beanspruchen kann. Das ist noch hypothetisch. Aber es ist wichtig, hier das Recht weiterzuentwickeln, das bringt uns voran auch ohne Reform der Konvention.

Europa beschäftigt die Lage am Mittelmeer. Italien und die EU setzen auf Libyens Küstenwache, sie soll Flüchtlinge vom Weg nach Europa abhalten.

Wir sind bestürzt, ja entsetzt, dass Menschen, die sich unter großer Gefahr zur Überfahrt in Boote begeben, um internationalen Schutz zu erhalten, push-backs erleben. Aber das Bild ist sehr vielfältig. Dazu gehört, dass Libyens Küstenwache wahrscheinlich Tausende Leben gerettet hat. Aber dann bringen sie diese Leute in Lager, die zu den schlimmsten der Welt zählen. Zum gemischten Bild gehört auch, dass Italien einen der wichtigsten humanitären Korridore bereitstellt für besonders gefährdete Menschen.

Was erwartet das UNHCR von der EU?

Der UNHCR plädiert für einen gemeinsamen Mechanismus, um eine Seenotrettung zu organisieren, die den Menschen hilft. Tatsache ist auch, dass Europa sehr niedrige Zahlen irregulärer Migranten hat. Dennoch suggerieren einige aus politischen Gründen, es gebe einen Ansturm. Aber die Zahlen gehen seit fünf, sechs Jahren deutlich zurück. Europa nimmt wenige auf im Vergleich zu 3,7 Millionen Flüchtlingen in der Türkei, 850 000 in Bangladesch, einer Million Vertriebener in Mosambik und Millionen in ganz Afrika. Europa muss einfach angemessener reagieren, gelassener, das ist machbar.

Was lehrt das alles in Bezug auf die Konvention?

Obwohl wir ein sehr gemischtes Gesamtbild haben, leisten die meisten Länder Flüchtlingen weiter Hilfe. Auch Länder in verzweifelter Lage wie Libanon mit einer Million syrischer Flüchtlingen. Kolumbien gewährt 1,7 Millionen Vertriebenen aus Venezuela zeitweisen Schutz. Auch die Türkei und Bangladesch sind bemerkenswerte Beispiele der Großzügigkeit. Zugleich sehen wir viele Bedrohungen des Flüchtlingsschutzes. Deshalb brauchen wir Personen mit Einfluss in der Politik, die sich einsetzen für Flüchtlingsschutz. Bundeskanzlerin Merkel war da bemerkenswert, keiner in der Welt hat das so gemacht.

Ihre Zeit als Kanzlerin geht bald zu Ende.

Wir hoffen, ihr Nachfolger, ihre Nachfolgerin wird so engagiert sein wie sie.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: