Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingskatastrophe:Was die EU gegen das Massensterben im Mittelmeer tun muss

700 Flüchtlinge sind wohl tot. Ertrunken. Es ist die bislang schwerste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer - und die so genannte "Bootsaison" hat gerade erst begonnen. Die EU muss endlich reagieren.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Die Europäische Union steht vor dramatischen Wochen, wenn die Afrika-Flüchtlinge weiter in der großen Zahl und unter derart katastrophalen Umständen über das Mittelmeer kommen, wie zu Beginn der so genannten "Saison".

Allein: Migration ist kein Saison-Artikel, sondern ein Dauerphänomen. Und für die Ertrinkungs-Katastrophen gibt es die immer gleichen, unmittelbaren Gründe: Zu viele Menschen werden von Geschäftemachern auf zu kleine und untaugliche Schiffe gepfercht, die es nicht bis nach Italien schaffen.

Die EU hat nach dem Staatszerfall in Libyen keine Möglichkeit, Schleusern an Land das Handwerk zu legen. Sie kann am Ausgangspunkt der Flucht keine Aufnahme organisieren. Also muss sie es zum frühesten Moment tun, an dem sie mit Migranten in Kontakt kommen kann; sie muss es dort tun, wo Migranten dem vollen Risiko ausgesetzt sind und die Katastrophen mit großer Regelmäßigkeit eintreten: auf See, möglichst nahe an der libyschen Küste, damit das Risiko der Überfahrt reduziert wird.

Bei der jüngsten Katastrophe scheinen Italien und Malta richtig reagiert zu haben. Sie schickten Schiffe, kurz nachdem sie von dem übervollen Todeskahn Nachricht bekommen hatten. Ein Frachtschiff soll als erstes das Boot gesichtet haben, das erst durch die panische Reaktion der Aberhunderten an Bord kenterte.

Eine tragische Verkettung - die auch künftig nie ausgeschlossen werden kann. Aber das Risiko kann reduziert werden, wenn die EU bessere Vorsorge träfe: mit erheblich mehr Schiffen der Küstenwachen und Marinen der Staaten der EU, die das Meer nahe der libyschen Küste patrouillieren.

Wenn die EU Katastrophen verhindern und die Migrations-Welle beherrschen will, dann muss sie die Dimension akzeptieren: Sie muss Todeskähne früher abgefangen, Migranten auch in großer Zahl und schnell ein Aufnahmeverfahren ermöglichen - und die Menschen nach klaren Regeln auch abweisen und sicher in ihre Heimatländer zurückbringen. Erst wenn Europa dieses Verfahren in all seiner Dimension bewältigt, dann verlieren Schleuser an Bedeutung, das Risiko sinkt und Migration wird nicht zu einer Angelegenheit von Leben oder Tod.

Gewaltige Dimension der Migrations-Bewegung

Wäre die EU nicht Getriebene, sondern Treibende in Sachen Migration, dann nähme sie dem Risiko die Spitze. Nicht Italien oder Griechenland allein können das leisten, es ist eine Aufgabe für alle Mitglieder einer Wertegemeinschaft, die sich durch die Flüchtlingswelle in exakt dieser Kerneigenschaft herausgefordert fühlen muss.

Bei der Dimension der Migrations-Bewegung wird es Europa zwar nie völlig schaffen, alle windigen Heilsversprecher und Menschenhändler aus dem Geschäft zu drängen.Aber sie kann die Risikoprämie senken. Oberste Priorität muss dabei die Transparenz des Verfahrens haben: Nur wenn Flüchtlinge und Migranten wissen, was auf sie zukommt, dann können sie auch das Risiko kalkulieren. Sie müssen wissen, wann und wo sie mit dem europäischen Flüchtlingsrecht in Kontakt kommen; und sie müssen wissen, nach welchen Regeln eine Flucht oder eine Einwanderung möglich ist - und nach welchen nicht.

Nur im Halbschatten der Illegalen und der Unwissenden können falsche Hoffnungen sprießen.

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