Abdul nimmt sein Handy und hat Angst. Er nimmt es jeden Tag immer wieder, und er hat andauernd Angst. Angst um seine Familie, seine Eltern, seinen Bruder, seine Schwester. Also will er so oft wie möglich wissen, ob bei ihnen alles okay ist. Ob noch alle da sind. Noch alle leben.
Abdul (Name geändert) ist 25 und seit gut einem Jahr in Berlin. Seine Familie aber lebt im syrischen Aleppo. Sofern man dieses Leben noch Leben nennen kann. Wenige hundert Meter von der Front entfernt; andauernd in der Gefahr, dass die islamistischen Rebellen durchbrechen oder das syrische Regime mit Fassbomben-Attacken angreift. Jeder Gang raus, jeder Einkauf, jeder Blick aus dem zerschossenen Fenster kann das Leben kosten.
Der 25-Jährige dagegen hat erst mal Glück gehabt. Im Juni 2014 hat der Student für türkische Literatur sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Die Angst vor dem Tod hat ihn angetrieben. Kurz vor der Flucht starben um ihn herum achtzig Studenten, als mitten am Tag in der Uni eine Bombe explodierte. Außerdem drohte ihm die Zwangsrekrutierung durch Assads Truppen. Wie viele andere ist er deshalb aufgebrochen. Erst über Land in die Türkei, von dort übers Mittelmeer nach Griechenland und dann nach Deutschland. Mittlerweile ist er anerkannter Flüchtling, hat Integrationskurse besucht und arbeitet fest angestellt in einem Berliner Café. Außerdem hat er über ein katholisches Netzwerk Aufnahme bei einer Familie in Kleinmachnow gefunden. Abdul, das lässt sich sagen, ist gut angekommen und ziemlich gut angenommen in Deutschland.
Und nicht nur das. Inzwischen haben sich einige deutsche Privatpersonen entschlossen, seiner Familie zu helfen. Sie erleben seine Ängste, sie sehen entsetzt die täglichen Bilder im Fernsehen. Also haben sie sich entschieden, seine Familie aus Aleppo rauszuholen. Das wollen sie nicht etwa heimlich tun und erst recht nicht mit Hilfe von Schleppern. Sie wollen das nutzen, was legal längst möglich ist, auch wenn nur wenige das wissen. Sie wollen als Bürgen für Abduls Familie einstehen, um so das brandenburgische Landesaufnahmeprogramm zu nutzen. Dazu nötig ist eine Verpflichtungserklärung, für alle Kosten einzustehen, die ein Leben der Familie in Deutschland auslösen könnte. Genau genommen ist es eine Kostenübernahmegarantie privater Bürgen, die dem Staat - im besten zivilgesellschaftlichen Sinne - alle eventuellen Lasten abnehmen wollen.
Zum Kreis der Bürgen gehören ein Verfassungsrechtler und Rechtsanwalt aus Berlin, eine sehr erfolgreiche Unternehmerin aus Baden-Württemberg und der Geschäftsführer von Feinkost Käfer in München, Marc Eckes. Er habe zwar nicht die Zeit, den Flüchtlingen am Münchner Hauptbahnhof zu helfen, so Eckes zur Süddeutschen Zeitung. "Umso mehr aber bietet die Verpflichtungserklärung mir die Möglichkeit, einer Familie sehr konkret zu helfen". Ziel sei für ihn, der Familie einen Neustart zu ermöglichen und ihr auch dabei zu helfen, eine Sprachenschule, einen Job, eine Wohnung zu finden. "Eben wie es ein Pate machen sollte. Das empfinde ich als nachhaltige Hilfe."
Abduls Eltern und Geschwister sind in Aleppo. Leben sie noch?
Privates Engagement, wie es besser nicht sein könnte. Und doch droht es an einer politischen Posse zu scheitern. Grundlage für eine Aufnahme der Familie sind Landesaufnahmeprogramme, wie sie einige Bundesländer, darunter Brandenburg, vor einigen Jahren beschlossen haben. Sie sind gedacht für eine erweiterte Familienzusammenführung, weil die klassische Familienzusammenführung nur Verwandte ersten Grades, also Ehepartner und minderjährige Kinder, umfasst. Bei Abdul geht es um die Eltern und die Geschwister.
Allerdings benötigen die Länder bei jeder Verlängerung der Programme die Zustimmung des Bundesinnenministeriums. Und da ist der Haken. Der Bund genehmigt die Programme zwar, erinnert aber daran, dass Länderprogramme von den Ländern finanziell abgesichert werden müssten. Die Folge: Obwohl die Länder Bürgschaften zur Bedingung gemacht haben, zögern sie oder lassen die Programme auslaufen, weil sie nicht wissen, was nach ein paar Jahren vielleicht doch an Kosten auf sie zukommen könnte. Und der Bund? Er lobt jede private Initiative, versucht die Kosten aber ebenso von sich fern zu halten.
Und Abdul? Er hängt mit seinen Paten in der Luft, weil Brandenburg noch nicht entschieden hat, ob es sein am 30. September auslaufendes Programm verlängert. Die Folge: Die Familie in Aleppo fürchtet weiter um ihr Leben - und denkt immer stärker darüber nach, ob sie nicht doch die Flucht übers Mittelmeer wagen soll. Dabei wäre der legale Weg so einfach.
Die Verpflichtungserklärungen liegen vor; die Genehmigungen durch die zuständigen Ausländerbehörden stehen außer Frage. Es fehlt nur die Verlängerung des brandenburgischen Programms. Den Rest hat der Verein Flüchtlingspaten Syrien in Berlin längst vorbereitet. Er hat in Beirut eine Wohnung angemietet, weil die Familie an der dortigen deutschen Botschaft alle weiteren Papiere beantragen muss. Das kann einige Wochen dauern. Das Geld für die Tickets für den anschließenden Flug liegt schon bereit. Und in Berlin wartet nicht nur der Sohn; daneben haben die Paten schon eine erste Unterkunft organisiert und der Familie Plätze in Sprach- und Integrationskursen gesichert.
Jetzt warten alle auf das Ende der politischen Blockade. Und hoffen, dass in Aleppo alle am Leben bleiben.
Der Verein Flüchtlingspaten Syrien in Berlin hat sich im Frühjahr dieses Jahres gegründet. Er wird mittlerweile finanziert von rund 1000 regelmäßigen Spendern. Gut 50 Helfer organisieren die Betreuung der Familien, kümmern sich um Integrations- und Sprachkurse. Alle arbeiten ehrenamtlich. Das Motto lautet: Jeden Cent für die Flüchtlinge. Seit ihrer Gründung haben sie zwölf Menschen aus Syrien geholt, weitere zwölf sind derzeit in der "Warteschleife'', sitzen also noch in Syrien oder sind schon in Beirut, um nach Einreichung aller nötigen Papiere an der deutschen Botschaft auf die abschließende Genehmigung zu warten. Ist die da, geht es mit dem Flugzeug nach Deutschland - auch das finanziert und organisiert durch die Paten. Aktuelles Ziel: Bis Jahresende wollen sie 50 Menschen aus Syrien retten. SZ