Flüchtlingshilfe:Asylbewerber wollen keine Opfer sein

Flüchtlingshilfe: Ameen Nasir und Arezu Akhlaqi engagieren sich für Flüchtlinge

Ameen Nasir und Arezu Akhlaqi engagieren sich für Flüchtlinge

(Foto: Stephan Rumpf; SZ)

Sondern selbst helfen. Obwohl alle Seiten davon profitieren würden, müssen sie sich gegen Widerstände durchsetzen.

Von Karin Janker, München

Als im vergangenen Sommer die Züge mit Tausenden Flüchtlingen in München ankamen, begann für Arezu Akhlaqi ein neues Leben. Plötzlich gab es für sie wieder eine Zukunft. Aber nicht, weil sie aus einem der Züge stieg. Sondern weil sie am Gleis stand und begriff, dass sie gebraucht wird und helfen kann.

Arezu Akhlaqi floh vor vier Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Heute betreut sie geflüchtete Frauen und betreibt eine Nähgruppe für Flüchtlinge in München. Akhlaqi ist eine selbstbewusste Frau, keine, die die Hände in den Schoß legt. Vor ihrer Flucht war sie in ihrer Heimat politisch und gesellschaftlich aktiv. In Deutschland jedoch fühlte sie sich zur Untätigkeit gezwungen - bis sie davon psychisch krank wurde. Sie musste lange kämpfen, bis sie eine Möglichkeit fand, sich zu engagieren.

Eine zentrale Forderung an Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, lautet: Integriert euch! Wenn sie sich mit Landsleuten zusammentun wollen, sieht das für manche nach Parallelgesellschaft aus. Flüchtlinge sollen sich möglichst rasch der Mehrheitsgesellschaft anschließen. Die Rollenverteilung scheint klar: Freundliche Deutsche helfen armen Flüchtlingen.

Allerdings ist diese Vorstellung weder zeitgemäß noch erreicht sie auf lange Sicht ihr Ziel: Integrationsforscher wissen inzwischen, dass es bei der Integration hilft, wenn auch Flüchtlinge füreinander da sind und voneinander lernen. Susanne Huth vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) sagt: "Eine Gruppe von Landsleuten bietet am Anfang Schutz in einer völlig fremden Umgebung." Durch sie finde zunächst eine Binnenintegration statt, die dann in eine gesamtgesellschaftliche Integration münde.

Sie wurde depressiv, musste Medikamente nehmen

Arezu Akhlaqi ging es nicht darum, ihre Binnenintegration voranzubringen, sie wollte einfach nicht mehr untätig herumsitzen. Akhlaqi kam im Spätsommer 2011 in München an, ihre ersten eineinhalb Jahre verbrachte sie im Asylbewerberheim. "Dort konnte man nichts tun, nicht arbeiten, nicht einmal kochen, mit niemandem über seine Probleme sprechen." Sie vermisste ihre Kinder, die bei Verwandten zurückgeblieben waren, wurde depressiv, nahm Medikamente. Heute sagt sie, die Untätigkeit und das Gefühl der Hilflosigkeit seien schuld daran gewesen, dass sie krank wurde.

Gerade für Menschen, die Krieg und Flucht erlebt haben, sei es wichtig zu erleben, dass sie nützlich sind, sagt Susanne Huth. Sie spricht von einer Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Flüchtlinge könnten sich als Paten, Lotsen oder Dolmetscher engagieren oder in der Kultur- und Bildungsarbeit arbeiten. Das nutze Helfenden und Neuankömmlingen gleichermaßen: "Der Vorteil solcher Formen von Selbstorganisation ist, dass sie auch Zielgruppen erreichen, zu denen deutsche Helfer nur schwer Zugang finden", sagt Huth. Sei es, weil Sprachkenntnisse fehlen oder weil es leichter ist, sich jemandem anzuvertrauen, der das Gleiche durchgemacht hat wie man selbst.

"Sie haben Schreckliches erlebt und können mit niemandem sprechen"

Arezu Akhlaqi fand erst im Sommer 2015 aus ihrer Depression heraus. Plötzlich merkte sie, dass sie nicht die einzige Hazara in München war. Diese Volksgruppe lebt als Minderheit in Afghanistan, Pakistan und im Iran. Zum ersten Mal seit vier Jahren traf Akhlaqi Frauen und Männer aus ihrer Heimat. Die wollten genau wie sie selbst reden, erzählen, weinen. Sich verstanden wissen. "Hazara sprechen kein Arabisch, sondern Persisch. Und es gibt nicht viele Perser in den Asylheimen", sagt Akhlaqi.

Als sie vom Hauptbahnhof nach Hause kam, erstellte sie noch am selben Abend eine Facebook-Seite und bekam binnen kurzer Zeit so viele Nachrichten, dass sie nächtelang damit beschäftigt war, sie zu beantworten. Frauen wollten sie treffen, Akhlaqi verabredete sich mit ihnen bei McDonald's und Burger King, trank dort einen Becher Kaffee mit ihnen. Und noch einen. Und noch einen. Irgendwann überlegte sie, ob sie sich das überhaupt noch leisten konnte, so groß war der Gesprächsbedarf.

"Hazara-Frauen werden in vielen Ländern diskriminiert, viele haben Schreckliches erlebt und können mit niemandem darüber sprechen", erzählt Akhlaqi. Sich einem Mann oder einer europäischen Frau anzuvertrauen, sei für viele ausgeschlossen. Zu groß sei die Scham. Akhlaqi, die eigentlich kein Kopftuch trägt, hat sich angewöhnt, bei den Treffen einen Schal über ihr Haar zu legen. "Die Frauen fühlen sich dadurch respektiert und erkennen in mir eine Vertraute."

"Wir wollen arbeiten. Man muss uns nur zeigen, wo das hier geht"

Davon, dass immer mehr Flüchtlinge sich engagieren wollen, zeugt auch die Statistik des neuen Bundesfreiwilligendienstes (BFD) mit Flüchtlingsbezug: Seit Jahresanfang gibt es insgesamt 10 000 Plätze, sie stehen jedem offen, der sich für Flüchtlinge engagieren will, Deutschen wie Asylbewerbern. Inzwischen sind knapp 4000 Plätze besetzt, davon ein Drittel von Asylbewerbern. Dabei haben zum BFD nur solche Flüchtlinge Zugang, die bereits eine Anerkennung oder zumindest eine sichere Bleibeperspektive haben. Von dem Geld, das sie für ihre Arbeit dort bekommen, werden staatliche Hilfen abgezogen.

Flüchtlingen, die auf eigenen Faust helfen wollen, macht es Deutschland dagegen nicht leicht. "Migrantenorganisationen stehen vor dem Problem, dass es für sie meist keine strukturelle Finanzierung gibt", sagt Olga Zitzelsberger, die an der TU Darmstadt zu migrantischer Selbsthilfe forscht. "Da sie fast komplett ehrenamtlich getragen sind, müssen sie alles aus eigener Kraft stemmen." Die meisten Ressourcen hätten die etablierten Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände, doch deren Kontakt zu hilfswilligen Flüchtlingen sei nicht ausreichend.

Für Susanne Huth vom BBE liegen die Defizite vor allem in der schlechten Vernetzung: "Neu gegründete Helferkreise und alte Organisationen kennen sich zum Teil gar nicht und arbeiten so aneinander vorbei." Abhilfe könnten ihrer Einschätzung nach zum Beispiel Ehrenamt-Koordinatoren schaffen, die in Asylunterkünfte gehen und dort gezielt hilfswillige Flüchtlinge ansprechen.

"Niedrigschwellig" nennen Sozialpädagogen solche Angebote

Wer nicht darauf warten will angesprochen zu werden, muss selbst aktiv werden. Wie Ameen Nasir, der eine Idee hatte, die so einfach wie zeitgemäß ist: Der 24-jährige Syrer hat gemeinsam mit zwei deutschen Freunden einen Verein gegründet, der Deutsche und Flüchtlinge zusammenbringt. Nasir kam vor eineinhalb Jahren nach Deutschland. Zuerst wurde er von einem Asylbewerberheim zum nächsten geschickt. Inzwischen wohnt er in München in einer WG mit syrischen Freunden. Er hat einen Job gefunden und hofft, bald studieren zu können.

Vor einem Dreivierteljahr riefen er und seine Freunde unter dem Namen "Zusammenwachsen" eine Whatsapp-Gruppe ins Leben, der jeder beitreten kann, der Interesse hat. "Wir verabreden uns per Chat für Kino, einen Grillabend oder einen Museumsbesuch", erzählt Nasir. Sobald jemand aus der Gruppe auf Deutsch oder Arabisch einen Vorschlag macht, übersetzen Nasir und seine beiden Mit-Organisatoren die Nachricht. Wer mag, kommt zum Treffpunkt. "Ganz unkompliziert", sagt Nasir. "Niedrigschwellig" nennen Sozialpädagogen solche Angebote.

Für Nasir ist klar: "Wir wollen einfach zusammen eine gute Zeit haben. Weil es egal ist, ob jemand Deutscher ist oder Syrer oder Iraker." Zu den Treffen kämen meist gleich viele Deutsche wie Flüchtlinge. Vor Kurzem haben sie gemeinsam Schloss Nymphenburg besucht, das Gruppenfoto im Chat bekam lachende Smileys. "Meistens reden wir über Fußball, Sport im Allgemeinen, aber auch Politik", erzählt Nasir. Warum er das macht? "Ich bin doch jetzt ein Teil von Deutschland!"

"Im Heim leben die Menschen wie Tiere"

Arezu Akhlaqi suchte lange nach Räumen für ihre Hazara-Gruppe, klopfte bei allen großen Organisationen an, bis sie endlich einen passenden Ort im Gemeinschaftshaus von Bellevue di Monaco fand. Heute treffen sich dort regelmäßig etwa 20 Hazara-Frauen zwischen 20 und 60 Jahren zum Nähen, Kochen und Deutschlernen. Gemeinsam üben sie Fahrradfahren und lernen Schwimmen. "Das ganze Projekt ist nur möglich, weil mir so viele Deutsche geholfen haben", sagt Akhlaqi. Sie habe viel von ihren deutschen Freunden gelernt, nicht nur die Sprache, sondern auch über das Rechtssystem und Gepflogenheiten im Alltag. "Flüchtlinge sind keine behinderten Menschen, wir wollen arbeiten. Man muss uns nur zeigen, wo und wie das hier geht."

Seitdem sie ihre Frauengruppe betreut, habe sie keinen schlechten Tag gehabt, obwohl sie keine Medikamente mehr nimmt. "Viele Deutsche glauben, sobald man als Flüchtling ein Bett in einem Asylheim hat, hat man es geschafft. Dabei fängt es dort erst an", sagt Akhlaqi. "Im Heim leben die Menschen wie Tiere, nur essen und schlafen. Sonst nichts. Das macht auf Dauer krank." Deshalb freut sie sich besonders, wenn junge Männer aus den Münchner Unterkünften in ihren Gruppenraum kommen und fragen, ob sie den Innenhof kehren oder an der Nähmaschine eine Hose kürzen dürfen. Sie mag diesen zufriedenen Gesichtsausdruck, den Menschen bei der Arbeit haben.

Hinweis: Wenn Sie eine Nähmaschine für Arezu Akhlaqis Nähgruppe spenden möchten, leiten wir Ihre Nachricht gerne weiter.

Link-Tipp: Hier finden Sie Informationen darüber, wie Flüchtlinge sich engagieren können.

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