King Jacob war schon sehr nahe. Ein Scheinwerfer, eine plötzliche Hoffnung in der Dunkelheit, in der Angst. Als das portugiesische Handelsschiff, ein mächtiger Kahn mit Containertürmen auf dem Deck, sich dem Flüchtlingsboot in der Straße von Sizilien näherte, war es Mitternacht. King Jacob war nicht zufällig da. Benachrichtigt von der italienischen Küstenwache, hatte das Schiff seine Route korrigiert, um den Menschen auf dem heillos überladenen Boot zu helfen, sie zu retten. Das war das Ziel, ein solidarischer Akt. Wie so oft in den vergangenen Monaten hing die Hoffnung der Verzweifelten aus den Kriegen und der Misere auf der anderen Seite des Mittelmeers wieder am guten Willen der privaten Crew eines Handelsschiffs. Oder an der einer Nichtregierungsorganisation. Nicht an Europa, dem offiziellen.
Als die Flüchtlinge das Containerschiff erblickten, setzte offenbar eine verhängnisvolle Bewegung ein an Bord. Manche versuchten, die Seite zu wechseln, um zu den Ersten zu gehören, die gerettet würden. Das Boot neigte sich zur Seite, kippte, kenterte. Mehr als 700 Menschen, so erzählte es danach einer von zunächst nur 28 Überlebenden, fielen in die Wellen. Im Dunkeln, mitten in der Nacht. Viele konnten nicht schwimmen, viele ertranken. Ein weiterer Überlebender berichtet gar von 950 Personen an Bord. Wenn die Schätzungen der Zeugen stimmen, dann wäre das die größte bekannte Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Jemals.
Vielleicht bewegt dieses neuerliche Unglück von schier unermesslichem Ausmaß an der Kreuzung zwischen den Kontinenten das Bewusstsein und das Gewissen Europas. Sollten sich die Befürchtungen bewahrheiten, sind allein in den vergangenen zehn Tagen mehr als tausend Flüchtlinge umgekommen bei ihrem Versuch, das Mittelmeer an dieser gefährlichen Stelle zu überqueren. Die Schlepperbanden gehen immer brutaler vor, zwängen viel zu viele Menschen auf viel zu kleine, oft kaum seetaugliche Boote.
Flüchtlingskatastrophe:Was die EU gegen das Massensterben im Mittelmeer tun muss
700 Flüchtlinge sind wohl tot. Ertrunken. Es ist die bislang schwerste Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer - und die so genannte "Bootsaison" hat gerade erst begonnen. Die EU muss endlich reagieren.
Die ersten politischen Stellungnahmen nach der Katastrophe deuten darauf hin, dass der Ernst der Lage erkannt ist. Frankreichs Präsident François Hollande etwa mahnte eine Dringlichkeitssitzung der EU an und nahm damit die Appelle von Italiens Premier Matteo Renzi und von Papst Franziskus auf, die beide auf mehr Solidarität und Sensibilität drängen. In Deutschland fordert die Linke Kanzlerin Angela Merkel auf, einen "Europa-Gipfel zur Mitmenschlichkeit" zu initiieren.
Vor den Särgen Europas humanitären Geist beschwören
Allerdings gab es solche Bekenntnisse schon einmal. Im Oktober 2013, nachdem ein Flüchtlingsschiff kurz vor der Küste Lampedusas verunglückte und 366 Menschen in den Tod riss, hörte man europäische Spitzenpolitiker sagen: "Nie wieder!" Sie reisten auf die italienische Insel, verneigten sich vor den Särgen und beschworen Europas humanitären Geist. Damals hieß es auch, Europa werde das geografisch exponierte Italien nicht alleinlassen mit dem Ausnahmezustand. Das verhallte bald.
Italien geriet in manchen Ländern im Norden Europas gar in den Ruch, es fördere mit seiner Rettungsmission Mare Nostrum die Flucht übers Mittelmeer. Abschreckung, sagten diese Kreise, sei besser. Als ließen sich Kriegsflüchtlinge, etwa aus Syrien, leicht abschrecken. Eine Mehrheit der Italiener begrüßt die solidarische Haltung ihres Landes und verübelt Resteuropa, dass es sich ihm nicht anschließt. "Dieser humanitäre Notfall wäre eine Gelegenheit für ein gemeinsames Engagement", schreibt der Corriere della S era, "doch Italien begegnet diesem Notfall ganz alleine."
Das Land trägt die Hauptlast, nimmt die Ankömmlinge auf, bringt sie in Zentren unter. Im Augenblick sind es 70 000. Die meisten Auffanglager sind so voll, nahe am Kollaps, dass Italiens Innenministerium vor einigen Tagen die Präfekten in den Regionen anwies, notfalls Schulen und Hotels zu beschlagnahmen und als Unterkünfte für Flüchtlinge herzurichten. Italien, fast ganz umgeben vom Mittelmeer, wähnt sich als Herzstück der Region doppelt verpflichtet - politisch und emotional.
Ihr Forum:Welche Konsequenzen muss die EU aus dem Flüchtlingsunglück ziehen?
Erneut sterben Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer. Seit dem Schiffsunglück vor der Insel Lampedusa hat sich an der EU-Flüchtlingspolitik nichts geändert. Erkennt Europa nun den Ernst der Lage?
Die rechtsextreme Lega Nord fordert eine Seeblockade
Doch es gibt auch italienische Parteien, die Renzis Regierung angreifen für deren Politik. Besonders virulent ist die Kritik - wenig verwunderlich - von der rechtsextremen, fremdenfeindlichen Lega Nord. Deren Chef, Matteo Salvini, ein Provokateur mit übermäßiger Fernsehpräsenz und unbändigem Mitteilungsbedürfnis in den sozialen Netzwerken, machte am Sonntag Premier Renzi und Innenminister Angelino Alfano verantwortlich für den Tod der Flüchtlinge: "Ihre Scheinheiligkeit und ihr Gutmenschentum tötet Hunderte."
Salvini wirft der Regierung vor, sie spiele den Schleppern in die Hand. Man müsse stattdessen mit allen Mitteln eine Seeblockade errichten vor den Küsten Libyens, damit kein Flüchtlingsboot mehr ablegen könne. Bei anderer Gelegenheit sagte der Populist auch schon einmal, er würde Boote in Seenot einfach driften lassen.
Die Lega Nord spielt mit den Ängsten der Leute und instrumentalisiert das Thema wahltaktisch. Im Kern aber unterscheiden sich die unsäglichen Verlautbarungen nicht so sehr von der Gleichgültigkeit in manchen Kreisen im Norden Europas.