EU:Flüchtlingsdeal in Brüssel - nur nicht über Details reden

EU Heads Of State Meet With Turkey To Finalise Migrant Deal

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem britischen Premierminister David Cameron und Frankreichs Präsident François Hollande.

(Foto: Francois Lenoir/Getty Images)

Die Spannung hält bis zum Schluss - dann steht die Einigung Europas mit der Türkei. Die Frage, ob Flüchtlinge künftig mit Gewalt festgehalten werden, fällt unter den Tisch.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

Angela Merkel hat es sich zur Regel gemacht, das Gebäude des Europäischen Rates auch tief in der Nacht nicht ohne Pressekonferenz zu verlassen. Die Bundeskanzlerin hat schlechte Erfahrungen damit, zwischen zwei Gipfeltagen anderen die Deutungshoheit über den Stand der Verhandlungen zu überlassen.

Es ist eine halbe Stunde nach Mitternacht, als Merkel also wieder im deutschen Pressesaal sitzt, und doch ist diesmal vieles anders. "Hierzu", sagt sie, als sie auf den EU-Türkei-Deal zu sprechen kommt, "kann ich Ihnen nur einen Zwischenbericht geben, weil wir heute quasi die wesentlichen Elemente besprochen haben."

Es gibt nicht viel zu deuten, und Merkel beansprucht, für den Moment, auch nicht die Hoheit. Merkel will eigentlich nur eines: dass nichts schiefgeht in den nächsten Stunden.

Deshalb sagt sie so gut wie nichts über Details. "Natürlich bietet das Angebot der Türkei, die irreguläre Migration dadurch zu beenden, dass wir dann die Flüchtlinge wieder von den griechischen Inseln in die Türkei zurückschicken, eine gute Möglichkeit, Schmugglern und Schleppern das Handwerk zu legen", sagt sie.

Merkel bleibt allgemein. Am Morgen soll EU-Ratspräsident Donald Tusk, flankiert von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoğlu zum Frühstück servieren, was die EU an Gegenleistungen anbieten will. Bis dahin soll Schweigen Gold sein.

"Keine Frage des Geschäfts"

Um zehn vor neun rollt Davutoğlus Limousine vor das Ratsgebäude. "Hier sind wir wieder zurück in Brüssel zu einem neuen Gipfel", flötet der Premierminister. "Für uns, die Türkei, ist die Flüchtlingsfrage nicht die Frage eines Geschäfts, sondern eine Frage der Werte, der humanitären Werte und der europäischen Werte."

Die EU und die Türkei hätten "dasselbe Ziel, insbesondere syrischen Flüchtlingen zu helfen", sagt der Türke. Und er verbreitet Optimismus. "Ich bin sicher, ich hoffe, wir erreichen unser Ziel, allen Flüchtlingen zu helfen, als auch die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu vertiefen, was eine gute Nachricht für unseren Kontinent und die Menschheit insgesamt ist."

Das Wohlergehen der Menschheit also wird verhandelt, darunter macht es Davutoğlu nicht.

Pressefreiheit? Heute nicht das Thema

Am reich gedeckten Frühstückstisch muss es den drei europäischen Unterhändlern darum gehen, den Gast aus Ankara ein wenig zu erden. Nicht, um ihn an europäische Werte wie die Pressefreiheit zu erinnern. Im Auftrag der 28 Staats- und Regierungschefs geht es vielmehr darum, der Türkei bis zu einer imaginären roten Linie entgegenzukommen.

Wo genau sie liegt, ist Verhandlungsgeheimnis. Kein großes Thema mehr ist die in Deutschland und anderswo heiß diskutierte Visafreiheit für in die EU reisende Türken. Sie soll schneller kommen als ohnehin geplant, möglichst von Juli an.

Vier Probleme sind es vielmehr, die noch auf dem Tisch liegen. Allen voran jenes, das unter der Überschrift "Legalität" diskutiert wird. Also: Wie hält die geplante Rückführung vor Gerichten stand?

Zweiter Knackpunkt: Wann soll das alles losgehen? So schnell wie möglich, um Schleppern wenig Zeit für Last-Minute-Überfahrten zu geben. Aber wie schnell kann das komplizierte Verfahren auf die Beine gestellt werden?

Problem Nummer drei sind die "Kapitel". Die Türkei will Tempo in die sich dahinschleppenden EU-Beitrittsverhandlungen bringen und fünf neue Verhandlungskapitel eröffnen. Hier müssen Bedenken aus Zypern zerstreut werden.

Sechs Milliarden Euro an Ankara

Und dann geht es, wieder einmal, ums Geld. Insgesamt sechs Milliarden Euro sollen, so will es Ankara, für Flüchtlinge bis 2018 in die Türkei fließen.

Die Gespräche ziehen sich hin, mehrmals gibt es "technische Pausen". Kanzlerin Merkel sitzt derweil im deutschen Delegationsbüro und tut: nichts. Angeblich jedenfalls nichts, was mit den Verhandlungen zu tun hätte. Beim jüngsten Gipfel am 7. März hatte es viel Verdruss gegeben wegen des Verdachts, dass eigentlich die Kanzlerin hinter den türkischen Überraschungsvorschlägen stecke. Diesmal also hält Merkel sich offensiv heraus.

Die deutsche Position ist ja auch recht klar. Merkel will den Deal, sie braucht ihn unbedingt. Monatelang hat sie auf die Vereinbarung mit den Türken hingearbeitet. Nach dem gescheiterten Plan, Flüchtlinge im großen Stil europaweit zu verteilen, ist nun der Deal mit den Türken das, was Merkel die "europäische Lösung" nennt.

Zweck der Übung: die Abschiebung

Eine Lösung, die nur den Flüchtlingen helfen soll, wie Davutoğlu es treuherzig darstellt, ist das natürlich nicht. Immerhin sollen Menschen, auch gegen ihren Willen, zurück in die Türkei gebracht werden.

Da kommt die Legalität ins Spiel. Jeder Flüchtling soll, er befindet sich ja in der EU, ein "faires Verfahren" erhalten. Dafür gibt es drei Varianten, die alle auf dasselbe hinauslaufen: die Abschiebung. Sie ist ja Zweck der Übung.

Die individuellen Umstände sollen zwar in jedem Fall geprüft werden, auch um jene Flüchtlinge herauszufiltern, denen wirklich Folter oder Gefahr in der Türkei droht. Die Rechtsgrundlage aber ist jeweils unterschiedlich: Wer in Griechenland keinen Antrag auf Asyl stellt, darf ohne weiteres rechtliches Gehör abgeschoben werden.

Beantragt ein Flüchtling Asyl, der schon in der Türkei als solcher anerkannt worden ist, was auf die meisten Syrer zutrifft, wird er ebenfalls sofort abgeschoben. Ficht er das an, wird ihm das Ergebnis in der Türkei zugestellt.

Wer hingegen noch nicht als Flüchtling in der Türkei registriert worden ist, so wie viele Iraker oder Afghanen, könne seine Abschiebung mit einem Einspruch um "drei bis vier Tage" bis zur Gerichtsentscheidung hinauszögern, heißt es.

"Die größte logistische Operation" der EU

Damit das alles funktioniert, muss vieles in Griechenland künftig sehr viel schneller und besser ablaufen. Etwa 4000 Richter, Asylbeamte, Übersetzer, Grenzschützer und andere Helfer aus allen EU-Staaten sollen helfen. "Das ist die größte logistische Operation, mit der sich die EU je konfrontiert sah", sagt der Niederländer Rutte. Die Oberaufsicht soll sein Landsmann Maarten Verwey erhalten.

Die Botschaft: Ruhig, liebe Griechen, Europa managt das für euch. Diesmal sind die Empfänger dankbar. Vor ein paar Monaten hatte sich Athen noch gegen Hilfe gestemmt, um am Durchwinken der Flüchtlinge Richtung Balkan nichts ändern zu müssen.

Auch eine Luftbrücke wurde besiegelt

Die Rechtsfragen werden während des Gipfels in aller Ausführlichkeit diskutiert. Interessant und bezeichnend ist, worüber im Ratsgebäude nicht geredet wird: Viele Flüchtlinge werden sich schlicht wehren gegen ihre Abschiebung, sie werden mit allen Mitteln versuchen unterzutauchen. Dem ließe sich nur mit Gewalt begegnen, sprich dem Ausbau der "Aufnahmelager" in regelrechte Abschiebeknäste.

Ebenso ungelegen scheint der Hinweis auf den eigentlichen Kern des Deals mit Ankara zu kommen. Denn mit der Aufnahme von bis zu 72000 Syrern im Eins-zu-eins-Verfahren ist es natürlich nicht getan. Vielmehr müssen in den kommenden Jahren Hunderttausende Flüchtlinge per Luftbrücke nach Europa geschafft werden. Im Deal steht das zwar drin, in der Kommunikation spielt es aber keine große Rolle.

Es ist schon nach 14 Uhr, als im Ratsgebäude das Mittagessen beginnt - und zwar ohne den Gast aus der Türkei. Tusk hat eine neue Fassung des EU-Türkei-Deals mitgebracht, ausgehandelt in drei Runden mit Davutoğlu, und bittet die 28 Staats- und Regierungschefs, dem Papier ohne Änderungen zuzustimmen. Darin sind die Streitpunkte geregelt.

Das Wichtigste: Alle Flüchtlinge, die ab Sonntag auf griechischen Inseln landen, werden zurück in die Türkei gebracht. Rechtliche Bedenken sollen durch die Versicherung ausgeräumt werden, dass das ganze Verfahren zur Abschiebung der Flüchtlinge im Einklang mit internationalem und EU-Recht stattfindet.

Plötzlich geht alles ganz schnell

Nicht einmal eine Stunde sitzen die Chefs zusammen, dann beginnen einige zu twittern. "Abkommen mit der Türkei zugestimmt", verkündet der tschechische Ministerpräsident Bohuslav Sobotka. "Alle illegalen Migranten, die aus der Türkei in Griechenland ankommen, werden ab 20.3. zurückgeschickt." Nach einer Pause wird Davutoğlu hinzugebeten, Tusk lässt seine Glocke erklingen, und der Deal wird besiegelt.

In ihrer Pressekonferenz spricht Merkel erst einmal über den Tod ihres früheren Außenministers Guido Westerwelle. "Für mich persönlich ist dies ein richtig trauriger Tag", sagt sie.

Merkel macht eine kurze Pause, dann spricht sie über ihr Fazit des Tages in Brüssel - nämlich, "dass Europa es schaffen wird, auch diese schwere Bewährungsprobe zu bestehen".

Heiterkeit verbietet sich, doch ihre Zufriedenheit verbirgt Merkel nicht. Was da gerade aufgeht, ist ihr Plan. Nun muss er nur noch funktionieren.

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