Der SPD-Vorstand hat für den an diesem Donnerstag beginnenden Parteitag einen respektablen 19-seitigen Antrag zur Flüchtlingspolitik formuliert: Darin steht viel Kluges, viel Bemerkens- und Bedenkenswertes. Wenn dieser Antrag nicht nur Papier bliebe, sondern Leitlinie würde für die deutsche Einwanderungs-, Migrations- und Integrationspolitik: Man könnte zuversichtlich in die Zukunft schauen. Aber die Praxis der Bundesregierung unter Angela Merkel und Sigmar Gabriel ist von den Leitlinien des SPD-Papiers weit entfernt. So viel zum Bund.
Das Lageso steht für totales Behördenversagen
Wenn es um das Bundesland Berlin geht, um die Flüchtlingspolitik in der Hauptstadt also, dann ist es noch viel schlimmer. Die Entfernung zwischen dem schönen SPD-Papier und der Realität in Berlin lässt sich nur in Lichtjahren messen. Die Realität in Berlin heißt Lageso; das ist das Kürzel für das "Landesamt für Gesundheit und Soziales". Es steht seit Monaten für ein totales Behördenversagen. Die Behörde dieses Namens soll die Flüchtlinge betreuen; sie ist nicht einmal in der Lage, sie zu registrieren. Das Ordnungssystem dieser Behörde ist das Chaos.
Die unbearbeiteten Fälle dort stapeln sich in gelben Postkisten, die ohne System und Verstand irgendwo gelagert werden. Es gibt in diesem Amt, so erzählen es willige Mitarbeiter, den Job des Aktensuchers; diese Leute sind nur damit befasst, Akten zu suchen. Und draußen vor der Tür warten Tag für Tag vom frühesten Morgen an Männer, Frauen und Kinder, die, oft genug vergeblich, um die Dienste des Amtes betteln. Berlin wird gern als coole Stadt beschrieben; aber das hier ist nicht cool, sondern nur unwürdig.
Die Regierung tut nichts
Der Historiker Cordon Craig zitiert in seiner "Deutschen Geschichte von 1866 bis 1945" den Historiker Treitschke, der über die Zustände im Mecklenburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts geschrieben hat: Die Bedingungen dort seien derart, dass sie "eine gesittete Nation nicht ohne Erröten betrachten" könne. Das gilt heute für Berlin: Das Lageso ist wohl die schlechteste Verwaltungsbehörde Deutschlands. Verantwortlich dafür ist nicht nur der Sozialsenator Mario Czaja von der CDU; verantwortlich ist der Regierende Bürgermeister Michael Müller von der SPD, verantwortlich ist der gesamte rot-schwarze Senat.
In der Hauptstadt Berlin regieren de jure SPD und CDU; de facto regieren dort die drei Affen: Der eine hält sich die Augen zu, der andere den Mund, der dritte die Ohren. Die Regierenden wimmeln ab, tun nichts. Wer in der Praxis studieren will, wie abschreckende Flüchtlingspolitik aussieht, der muss sich im Lageso umschauen. Das ist aber dort nicht Ergebnis von böser Planung, sondern von Unfähigkeit. Bürgermeister Müller wird gewiss leugnen, dass man in seiner Stadt Flüchtlinge abschrecken wolle; er redet ja gut über sie, er wird gewiss auch für den Antrag seines Parteivorstands stimmen.
Es fehlt an Herz und Hirn
In diesem Antrag ist von einer "Verantwortungsgemeinschaft" die Rede; es müsse allen die Hand gereicht werden, "die mit Herz und dem notwendigen Sinn für die Realität" Flüchtlingsarbeit machen. In Berlin reicht es aber nicht mehr, die Hand zu reichen. Dort fehlt es der Regierung und Verwaltung an allem: Es fehlt an Herz und Hirn, es fehlt an der Beachtung der Grundregeln der Bürokratie, es fehlt daran, dass jemand dem Flüchtlingsamt das Phlegma und den stoischen Schlendrian austreibt.
Vierzig Rechtsanwälte haben soeben gegen den CDU-Sozialsenator und dessen Lageso-Amtsleiter Anzeige wegen Körperverletzung und Nötigung im Amt eingereicht. Strafrechtlich mag da nicht viel herauskommen. Es handelt sich um einen Hilferuf. Wer hört ihn? Michael Müller nennt sich Regierender Bürgermeister. Es wäre schon gut, wenn er wenigstens reagierender Bürgermeister wäre.