Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg:Eine Geschichte von Krieg, Kälte und Tod

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Deutsche Flüchtlinge mit ihrem Hab und Gut auf einem Karren auf der Flucht nach Westen. (Foto: SZ Photo)

Die 20-jährige Ruth Halfpap flieht bei Kriegsende mit ihrer Familie aus Westpreußen. Am Ende gibt es ein unverhofftes Wiedersehen - doch ein Kind fehlt.

Von Juliette Maresté

An dem Tag, an dem Ruth Halfpap ihre Heimat für immer verlässt, herrscht schneidende Kälte. "Es war der 21. Januar 1945 und minus 21 Grad," sagt die Seniorin mit fester Stimme. 20 Jahre ist sie damals, das jüngste von fünf Kindern der Eheleute Ludwigkeit und gerade fertig mit ihrer Ausbildung zur Apothekenhelferin in Marienburg, Westpreußen. Fünf Kilometer vor der Stadt, in Rothof, besitzen ihre Eltern eine Gastwirtschaft, den Kreuzkrug. Ruths Bruder Wilhelm ist zwei Jahre vorher gefallen, aber sonst war der Krieg bislang weit. Bis jetzt. Die Ostfront rückt immer näher, die Rote Armee, Kommunisten, die NS-Propaganda verstärkt die Angst.

Familie Ludwigkeit beschließt an diesem Januartag, alles aufzugeben und zu fliehen. Etwa zwölf bis vierzehn Millionen Deutsche aus den damaligen Ostgebieten sind während und nach Ende des Zweiten Weltkrieg geflohen, wurden evakuiert oder vertrieben. Die Zahl derer, die dabei den Tod fanden, wird auf etwa zwei Millionen geschätzt. Der geschichtliche Umgang mit dem Thema Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten ist bis heute kontrovers und bestimmte lange den politischen Diskurs im Nachkriegsdeutschland bis zur Wiedervereinigung. Inzwischen weicht die - früher vorherrschende - "Opferrolle" einem ehrlicheren Blick auf die Geschichte. Das Leid, das durch Flucht und Vertreibung entstand, findet Anerkennung - wenn man den Kontext, die Vorgeschichte beachtet. Hitler-Deutschland hatte nicht nur den Krieg begonnen, den Kontinent mit Zerstörung und Tod überzogen. Mit der Volkstums-Politik des NS-Regimes und dem Traum vom "Lebensraum" im Osten gingen auch Deportationen, Zwangsumsiedlungen und millionenfacher Mord einher.

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Ab Sommer 1944 schlägt das Pendel der Gewalt zurück. Die sowjetischen Truppen drängen die deutsche Wehrmacht bis an die Grenze Ostpreußens. Das NS-Regime verbietet zunächst Evakuierungen und Flucht. So kommt es, als die sowjetischen Truppen immer weiter vorrücken, zu einer chaotischen Flucht von Millionen. Wer bleibt, wird später vertrieben, interniert, Frauen oft systematisch vergewaltigt. Heute, 75 Jahre nach Kriegsende, sind die meisten Überlebenden, die damals flohen, über 80 Jahre alt. Ihre Geschichten erzählen von den Schrecken des Krieges für die Zivilbevölkerung, dem Raub ihrer Jugend und der Entwurzelung aus ihren Heimatorten.

In Ruth Halfpaps Elternhaus spielte der evangelische Glaube eine große Rolle. Ihr Vater, ein sehr religiöser Mann, habe sehr darauf geachtet, ihr Werte von Menschlichkeit zu vermitteln, erzählt sie. Als britische Kriegsgefangene vor Ort interniert werden, müssen einige auf dem Hof arbeiten. Eines Tages sahen sie, wie der Vater in Losendorf (heute: Łoza) als Vertretung die Orgel spielte. "Schließlich hat mein Vater sie dann zu einem Singgottesdienst eingeladen, an einem Sonntag im August 1944. Er meinte, dass er danach nie wieder so einen Gesang gehört habe. Sie waren ihm sehr dankbar und haben uns kleine Stückchen Seife und Tee gebracht.".

Im Dezember 1944 bekommt Ruths Schwester Hilde ein Kind per Kaiserschnitt. Es ist ein Mädchen, Renate. Wenige Wochen späterkommt der Krieg. Am 12. Januar beginnt die Sowjetarmee die Weichsel-Oder-Operation, eine Offensive auf 1200 Kilometern Länge. Die Hauptstraße nach Marienburg wird aufgerissen,ein Panzergraben eingerichtet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Ostfront Marienburg erreichen wird.

Hoffnung auf ein Schiff

Dann kommt der Tag, an dem die Flucht der Ludwigkeits durch Kälte, Krieg und Tod beginnt. Auf zwei von Pferden gezogenen Wagen verteilt schließt die Familie sich einer Fluchtkolonne an, langsam geht es über vereiste Straßen voran. Ruths Schwester und ihre Schwägerin haben jeweils zwei Kinder bei sich, ihre Eltern sind über 60. Auch Marian, ein junger Pole, der im Kreuzkrug mitgearbeitet hat, kommt mit.

Es gilt, den Fluss Nogat zu überqueren in Richtung Einlage (heute: Jazowa ), um das Danziger Werder, das Mündungsgebiet zwischen Weichsel und Nogat zu erreichen. Nach der Tagesfahrt machen sie nachts Halt in einem verlassenen Haus. Schlafen kann Ruth nicht, zu beißend ist die Kälte. Gegen vier Uhr morgens erreicht die Gruppe dann die Nachricht: die Sowjets sind weniger als 20 Kilometer entfernt. Sie müssen weiter. RuthsSchwester klagt über große Schmerzen, denn die Wunde des Kaiserschnitts öffnet sich immer wieder, und um sie zu versorgen, müssen sie Pausen einlegen.

"In allen Dörfern, die wir passierten, waren die Bewohner schon geflohen", erinnert sich Ruth Halfpap. Sie kommen schließlich in Schöneberg an der Weichsel (heute: Ostaszewo) unter, auf einem Bauernhof an einem Feldweg. "Es war eine schwierige Situation, weil wir ja noch das kleine Baby mit uns hatten und meine Schwester sehr geschwächt war." Weil ihr Vater noch Geld aus Danzig abholen lassen möchte, freundet sich Ruth mit einem Hauptmann in der Kommandantur vor Ort an, der ihr dabei hilft. Fortan wird er zu ihrem "Retter", wie sie ihn nennt und versorgt sie auch mit Information über den Vormarsch der Sowjetarmee.

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Im Februar erreicht die Front Ostpommern. Es bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten zur Flucht, außer dem Seeweg. "In der Kommandantur gab es ein Radio. Dadurch hatte ich auch erfahren, dass die Gustloff Ende Januar untergegangen war." Für die junge Frau ist dennoch klar: Es gibt für sie keine andere Option, sie müssen es versuchen. "Wir mussten sofort zur Küste fahren und über die Bucht fliehen,", erinnert sie sich. Als sie die Idee ihrem Vater unterbreitet, bricht ein heftiger Streit aus: "Er war es gewöhnt zu befehlen und nun habe ich mich das erste Mal gegen ihn gestellt, auch noch als Jüngste!"

Doch ihr Vater willigt schließlich ein und überlässt ihr die Verantwortung für die Fahrt. Aufgrund der Verzweiflung ihrer Eltern fühlte Ruth sich als die einzige Erwachsene, erzählt sie später. Mit Hilfe des Hauptmanns organisieren sie Pferdewagen, die sie Richtung Bucht bringen sollen. Trotz eines Gegenschlags der Wehrmacht Mitte Februar gegen die sowjetischen Streitkräfte rücken diese am 24. Februar in Richtung der Küste Pommerns vor, Westpreußen ist eingekesselt.

Am 3. März erreichen Ruth, ihre Schwester Hilde, ihre Schwägerin Edith, Marian und der Hauptmann den Küstenort Pasewark (heute: Jantar) an der Danziger Bucht. Ihre Eltern bleiben vorerst zurück in Schöneberg und sollen später nachkommen. Bei der Ankunft übernachten sie in einer kleinen Bahnhofshalle. Als der Morgen anbricht, wacht Ruth auf, es ist kalt. Sie beugt sich über ihre wenige Wochen alte Nichte Renate, um ihr einen Kuss zu geben. Die Kleine wacht nicht mehr auf. Auch wenn Ruth Halfpaps Stimme ruhig ist, als sie diesen Moment 75 Jahre später schildert, wird doch ihre Erschütterung deutlich.

Der Tod des Kindes versetzt Hilde in einen Schockzustand. Die Böden sind noch gefroren und somit eine Beerdigung nicht möglich. Mit Hilfe des Hauptmanns organisiert Ruth eine Kutsche, die sie zur nächsten Leichenhalle in Nickelswalde (heute: Mikoszewo) bringt. Dort habe sie dann das Kind vor die Tür gelegt, erzählt sie. Ihre Schwester sei nicht mehr dazu in der Lage gewesen.

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Kurz darauf beauftragt Ruth Marian damit, ihre Eltern Friedrich und Emma aus dem etwa 25 Kilometer entfernten Schöneberg zu holen. Doch als sie in die Kommandantur in Pasewark kommt, erfährt sie sogleich die nächste Schreckensnachricht: Die Sowjetarmee hat Schöneberg schon eingenommen. "Unsere Eltern waren also gefangen. Der Tod steht vor einem und das Leben daneben."

Seit März und bis Anfang April erleben sie den Angriff auf Danzig. Jeden Tag rückt die Sowjetarmee weiter vor und nimmt die Stadt am 30. März ein. Am 11. April soll ein weiteres Schiff einen Teil der Flüchtlinge Richtung Westen bringen, hört Ruth. Die Entscheidung fällt schnell, sie überzeugt ihre Familie, ihr zu folgen. In der Nacht vom 10. auf den 11. April erleben sie eine der schlimmsten Bombardierungen. Doch sie überleben.

In den frühen Morgenstunden steigen sie schließlich in kleine Boote, die sie zur Halbinsel Hela (Hel) bringen, ein schmaler Strich, der die Ostsee von der Danziger Bucht trennt. Als sie zum Schutz vor Luftangriffen in den Wald rennen, sehen sie die Deutschland, ein Passagierschiff, umfunktioniert in ein schwimmendes Lazarett, welches zu dem Zeitpunkt bereits Tausende Flüchtlinge gen Westen gebracht hatte. Doch Hildegard und Edith weigern sich an Bord zu gehen, zu groß ist ihre Erschöpfung. "Ich musste beide kommandieren, wieder in die kleinen Boote zu steigen. Wenn wir jetzt untergehen, dann sind wir gleich tot. Dann müssen wir uns auch keine Sorgen machen, dass wir gequält werden", sagt Ruth Halfpap.

Nach Kriegsende hört sie von dem Schicksal ihrer Arbeitskollegin aus der Apotheke, die in Marienburg geblieben war und von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde: "Ihr ganzes Leben hat sich nicht geheiratet. Sie können sich denken, warum."

Etwa 8000 bis 9000 Personen harren auf den Decks des Schiffs aus. Die Hälfte sind verwundete Soldaten, die anderen Flüchtlinge. Auf dem E-Deck, direkt über dem Maschinenraum, findet Ruth mit ihrer Familie einen Platz. Die Überfahrt beginnt, Kurs auf das deutschbesetzte Kopenhagen, heißt es, einmal die Ostsee queren. Dort warten die Unterseeboote der Sowjets, die bereits die Gustloff und andere Schiffe versenkt hatten. "Unsere Angst zerfraß die Hoffnung, mehrmals mussten wir ganz still sein und den U-Boot-Alarm abwarten. Es ist ein Wunder, dass wir nicht getroffen wurden." Mehrere Tage sind sie auf See, die Zeit scheint still zu stehen. Eines Morgens wacht Ruth auf. Die Motorengeräusche sind verstummt. Beängstigt schaute sie hinaus und erblickt die Kreidefelsen von Rügen. Es ist jedoch nur ein Zwischenziel der Reise. Die Toten werden abgeladen. "Man hat sie von oben auf die kleinen Boote geworfen, die ankamen. Als wir uns dann wieder in Bewegung setzten, war etwas mehr Platz und wir bekamen eine größere Kabine", erinnert sie sich. Kurz vor Kopenhagen kommt schließlich die Nachricht, dass dort keine Flüchtlinge mehr aufgenommen werden.

So dreht das Schiff ab und landet am 17. April in Warnemünde. Noch ist es nicht das Ende der Flucht. Mit einem Zug soll es zu einer weiteren Unterkunft gehen. Auf dem Weg nach Schleswig-Holstein hören sie es auf einmal über ihnen knattern. Maschinengewehrfeuer. "Es war Fliegeralarm, wir mussten alle raus aus dem Zug auf den Boden und warten, dass sie wieder weg waren." Dabei werden Ruth und Hildegard von ihrer Schwägerin Edith getrennt. Sie kommen in unterschiedlichen Dörfern an, vollkommen erschöpft. Doch an die Mahlzeit, die ihnen bei der Ankunft gereicht wurde, erinnert sich Ruth bis heute noch: "Milchgraupensuppe und Fliederbeersaft. Ich werde den Geschmack nie vergessen."

Mithilfe einer Einheit weiterziehender Wehrmachtsoldaten gelangen sie nach Hamdorf, im Kreis Rendsburg-Eckernförde, Schleswig-Holstein. Ihre Schwester folgt ihr nun und sagt: "Wenn du gehst, dann gehe ich auch." Es ist der 20. April. In Berlin feiert Hitler an diesem Tag seinen letzten Geburtstag im Führerbunker, für Ruth Halfpap beginnt ein neues Kapitel. Als die Gefechte aufhören und am 8. Mai das offizielle Kriegsende verkündet wird, spürt sie die Erleichterung über sich kommen: "Die furchtbare Angst vor dem Tod wurde abgelöst von Hoffnung." Die ganze Odyssee über trug sie ein Päckchen Gift und ein Messer mit sich in ihrem Stiefel. Nun nahm sie es heraus und wusste, dass sie es nicht mehr brauchen würde. Als sie von Hitlers Tod erfährt, sagt sie: "Gott sei Dank." Doch noch für zehn Jahre plagen sie Albträume, psychologische Hilfe gibt es keine. Das Heimweh, welches sie überkommt, spürt sie auch heute noch: "Ich könnte heulen, bis es nicht mehr geht. Wir haben ja auch die Menschen verloren."

Vor dem Verhungern gerettet

Die britische Besatzungszone wird etabliert, Ruth und ihre Schwester bleiben vorerst in Hamdorf , wo sie in einer Torfstecherei Arbeit findet. Doch trotz der Erleichterung, die Flucht überlebt zu haben, ist die Sorge um die Eltern und den Rest der Familie groß. Monate vergehen. Bis September. Da erreicht sie schließlich die Nachricht: ihre Eltern sind im Schwarzwald, zusammen mit ihrer Schwester Lotte. Bis heute scheint Ruth Halfpap es kaum glauben zu wollen.

Als sie damals Marian zurück nach Schöneberg schickte, um ihre Eltern zu holen, war Ruths Vater Friedrich bereits in einem russischen Gefangenenlager in Marienwerder (heute: Kwidzyn). Aufgrund seines Alters wurde er jedoch entlassen und versteckte sich aus Angst unter einer Nogatbrücke, wo Marian, nun Milizsoldat, ihn fand und vor dem Verhungern bewahrte. Jeden Tag brachte er ihm Essen.

Als Friedrich gestärkt war, begab er sich auf die Suche nach seiner Frau Emma und fuhr zurück nach Marienburg. Dort fand er sie, genauso wie seine Tochter Lotte und deren Sohn, die damals nicht mehr flüchten konnten. Zu Fuß machten sie sich im August auf den Weg nach Berlin. Und schafften es von dort in den Westen. Die Familie vereint sich nach einem Halt im Schwarzwald schließlich in Bad Rothenfelde, Niedersachsen.

Bevor sie damals aus Marienburg aufbrachen, fuhren sie noch einmal zum "Kreuzkrug", ihrer alten Wirtschaft. Ein Pole hatte den Hof und die Wirtschaft übernommen. Ruths Vater nahm Abschied, wandte sich an den neuen Wirt und sagte: "Wirtschafte gut, wir kommen nicht zurück."

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