Süddeutsche Zeitung

Übergriffe auf Geflüchtete:Raus aus dem Chaos

Im Durcheinander der Ankunft kann es für Frauen und Kinder aus der Ukraine gefährlich werden. Wie die Polizei sie vor Kriminellen an großen Bahnhöfen wie Berlin und München schützen will.

Von Moritz Baumann, Berlin, und Nina von Hardenberg, München

Es ist Berlin, die Hauptstadt, wohin es nach wie vor viele Geflüchtete aus der Ukraine treibt. Die Fahrt durch Europa ist eine Reise ins Ungewisse. Kurz nach der deutsch-polnischen Grenze, in Frankfurt an der Oder, steigen ehrenamtliche Helfer in die Züge und begleiten die Geflüchteten auf den letzten 100 Kilometern bis zum Berliner Hauptbahnhof. Sie geben Informationen weiter, beraten, unterstützen - und sie warnen vor Männern, die aus der Not ein Geschäft machen.

Immer wieder sind in den vergangenen Wochen Berichte aufgetaucht, dass Männer an Bahnhöfen ukrainische Frauen und Mädchen ansprechen, ihnen Zimmer anbieten, häufig kostenlos, oder sie ins Kino einladen. Auch in Chat-Gruppen auf Telegram seien solche Nachrichten aufgetaucht, erzählt Barbara Breuer.

Breuer ist Sprecherin der Berliner Stadtmission. Die Organisation betreut die beiden beheizten Zelte, genannt "Welcome Hall", auf dem Bahnhofsvorplatz. Dort können die Geflüchteten nach ihrer Ankunft verschnaufen, sich stärken, bevor es mit Bussen weiter zu den Unterkünften geht.

Die Zelte seien ein "Schutzraum", sagt Breuer. Alle Helfer sind mit Name, Adresse und Telefonnummer registriert. Dennoch ist sie froh, dass die Bundesregierung mehr Polizei an die Bahnhöfe schickt, um Menschenhändler und Sexualstraftäter abzuschrecken. "Wir dürfen nicht unterschätzen, dass die Leute traumatisiert sind, unter Schock stehen. Das ist eine totale Überforderung", so Breuer. Leichtes Spiel also für Kriminelle, die am Bahnsteig warten. Den Frauen droht sexuelle Ausbeutung, Zwangsprostitution und Menschenhandel. Zudem hielten Pädophile nach Kindern Ausschau, wie aus Senatskreisen zu hören ist.

Begleitung vom Bahnsteig bis zum Schutzraum

Die Bundesinnenministerin spricht von "verachtenswerten" Übergriffen. "Auf solche Taten reagieren wir mit aller Härte des Gesetzes", sagte Nancy Faeser der Bild am Sonntag. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte am Dienstag Schutzzonen für Frauen und Kinder. Wie das funktionieren soll? Genau wie die Berliner Welcome Hall, erklärt der GdP-Vorsitzende Andreas Roßkopf auf SZ-Nachfrage. "Das muss flächendeckend eingeführt werden. Die Flüchtlinge müssen vom Bahnsteig bis zu den Schutzräumen von Beamten begleitet werden."

Die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping freut sich, wenn die Polizei dafür mehr Personal bereitstellt. Sie habe schon in den ersten Wochen für mehr Polizeipräsenz geworben. "Das war gar nicht so einfach durchzusetzen." Das Gewusel am Hauptbahnhof sei die größte Gefahr. Zu den Flüchtlingen kommen gestresste Pendler und Familien, die in den Urlaub fahren - viele Menschen. "Chaos" nennt Kipping die Situation und betont: "Unser Ziel war immer, die Leute zuerst aus dieser unübersichtlichen Situation herauszuholen."

Unterdessen hält der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine ungebrochen an. Seit Februar haben die Behörden mehr als 230 000 Kriegsflüchtlinge registriert, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Um das Durcheinander an den Bahnhöfen, vor allem in Berlin und München, zu reduzieren, läuft jetzt die bundesweite Verteilung an. Die Ankünfte in der Hauptstadt seien rückläufig, so Kipping, trotzdem "knirscht es noch in der Umsetzung".

Das Bundesinnenministerium will den Zugverkehr aus Polen gezielt in andere Regionen lenken. In Polen haben sich die Städte Breslau und Rzepin, unweit von Frankfurt an der Oder, als Knotenpunkte für die Weiterreise etabliert. Zwei bis vier Sonderzüge fahren von dort nun täglich Hannover und Cottbus an, wo die Menschen dann verteilt werden. Weitere Knotenpunkte sollen entstehen. Viele Geflüchtete machten sich nach ihrer Ankunft dennoch auf den Weg in die Hauptstadt. "Die meisten kennen nur Berlin", sagt ein Sprecher der Stadt Cottbus.

Viele Geflohene kommen nach wie vor privat unter

Der Staat kann da wenig tun. Ukrainer dürfen ohne Visum in die EU einreisen, sich ihren Wohnort frei wählen und in andere EU-Staaten weiterreisen. Viele von ihnen kämen nach wie vor privat bei Verwandten oder freiwilligen Helfern unter, teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) am Dienstag mit. Erst wenn sie Leistungen vom Staat beantragen, würden ihre Personaldaten registriert. Nur diejenigen, die direkt eine Unterkunft brauchen, verteilt das Bamf auf die Bundesländer, und zwar zuerst dorthin, wo bislang wenige ankamen.

Allerdings sind die geflohenen Menschen nicht an den ihnen zugeteilten Ort gebunden. Es sei nicht zu verhindern, erklärt eine Bamf-Sprecherin, dass sie weiterreisen und sich an ihrem Wunschziel neu registrieren. Die Ukrainer haben damit einen besseren Status als Flüchtlinge, die ein normales Asylverfahren durchlaufen. Diese verbringen in der Regel die ersten eineinhalb Jahre in einer Erstaufnahmeeinrichtung.

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