EU in der Flüchtlingskrise:Führungsnation steht alleine da

Angela Merkel

Europas Ton gegenüber Kanzlerin Angela Merkel ist kühl geworden.

(Foto: AP)

Deutschland hat in der Griechenland-Krise einen scharfen Ton angeschlagen. Jetzt muss sich Berlin nicht wundern, wenn in der Flüchtlingsfrage die Solidarität der Partner fehlt.

Kommentar von Stefan Braun

Solidarität ist ein schönes Wort. Eines, das Nähe, Freundschaft, Mitgefühl ausstrahlt; das zeigt, dass man zusammengehören möchte. Kein Wunder, dass die Gründer der Europäischen Union den Begriff in den Mittelpunkt ihrer Verträge gestellt haben. Er findet sich in der Präambel der Europäischen Verträge; er zieht sich durch ihre ersten Artikel. Europa sollte von Anfang an ein Projekt der Solidarität sein. Als Bollwerk gegen die Kriege der Vergangenheit und Schutzwall gegen Egoismus in der Zukunft. Man muss daran erinnern, um zu erkennen, was sich derzeit in der EU abspielt.

Denn die Union des Jahres 2015 steckt in einer dramatischen Krise, weil diese Solidarität immer mehr Mitgliedern immer weniger wert ist. In der Reaktion auf das russische Vorgehen in der Ostukraine blieb Europa noch weitgehend solidarisch. Als es um die dritte und womöglich wieder nur vorläufige Rettung Griechenlands ging, wurden die Brüche deutlicher. Nun belegt der Umgang mit den Flüchtlingen, dass es mit der Solidarität zwischen Finnen und Griechen, zwischen Spaniern und Slowaken, zwischen Deutschen und Österreichern nicht mehr weit her ist.

Wenn sich das nicht ändert, setzt die EU ihre Kernidee aufs Spiel und könnte alsbald zu einer Verwaltungseinheit für nationalstaatliche Interessen schrumpfen. Dann wäre sie, was sie optisch auf der Weltkarte schon immer war: ein kleiner, bunter Flickenteppich auf dieser Erde.

Die Solidarität leidet auch wegen Deutschland

Wer Gründe für die Entsolidarisierung sucht, könnte natürlich auf andere zeigen. Auf die Griechen zum Beispiel, die lange Zeit die Hilfsbereitschaft der anderen Euro-Partner aufs Äußerste strapaziert haben. Oder auf die osteuropäischen Partner, die in der Ukraine-Krise am liebsten zur großen Aufrüstung mobilisiert hätten. Das alles trug zum Problem bei. Aber es liegt auch an Deutschland, dem größten Mitgliedsland der EU, dass die Solidarität in der Gemeinschaft derart leidet.

Die Bundesregierung hat gegenüber Griechenland über Monate eine Tonlage angeschlagen, die ihr damals als angemessen erschien. In ihrer Wirkung wurde sie aber massiv unterschätzt. Obwohl Athen erneut geholfen wird, hat sich in der Erinnerung vieler Menschen und vieler Regierungen in der EU eher das Bild von einem Deutschland festgesetzt, das eben nicht zuerst Solidarität versprochen hat, ehe es nach einer Lösung suchte.

Berlin wirkte wie ein Schulmeister, der seinem widerspenstigen Zögling beibrachte, was er tun und was er lassen sollte. Angesichts der Summen, für die Deutschland bei der Rettung Griechenlands haftet, mag dieses Bild ungerecht erscheinen. Atmosphärisch hat Berlins Auftreten trotzdem bewirkt, dass Solidarität nicht mehr als Selbstverständlichkeit erlebt wurde.

Neue deutsche Kälte

Viele Südeuropäer sprechen von einer neuen deutschen Kälte. Und viele osteuropäische EU-Staaten haben den Stil studiert und offenbar ihre Lehren gezogen. Deutschland ist als europäische Führungsnation im Wortsinne stilbildend. Wahrnehmung von Politik und tatsächliche Entscheidungen haben mehr miteinander zu tun, als manchen lieb ist.

All das legitimiert die Entsolidarisierung insbesondere bei den Osteuropäern in der Flüchtlingsfrage nicht. Aber es kann die Verwerfung erklären, die sich nun zwischen Berlin und Budapest, ja sogar zwischen Berlin und Wien auftut. Zum ersten Mal überhaupt erklären eine beträchtliche Zahl von Mitgliedstaaten, dass ein Problem für sie keine Relevanz habe. Dieser Ton hat eine neue Qualität und wird nicht zu einer schnellen Lösung des Problems beitragen.

Mehr als 90 Prozent der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, werden von neun der 28 Mitglieder aufgenommen - die allermeisten von Deutschland. Ein derart kühler Umgang mit Berlins Mahnungen und Bitten um eine faire Lastenverteilung bedroht das Fundament, das die EU ausmacht. Die Gefahr für den Zusammenhalt in Europa wird offensichtlich.

Eine Union lebt von Regeln

Die Union basiert auf Verträgen. Sie lebt von Regeln. Wie ein Rechtsstaat will sie eine Rechtsgemeinschaft sein und bleiben. Aber sie wird nicht alleine davon zusammengehalten. Zusammenhalt entsteht, wenn die EU ein Problem als das Problem der Gemeinschaft begreift. Wenn sie die Not des einen als die Not aller betrachtet.

Bei vielen Deutschen sitzt der Eindruck tief, es seien vor allem die anderen Staaten auf dem Kontinent, die Deutschlands Hilfe bräuchten. Jetzt, wo Hunderttausende Flüchtlinge kommen, reiben sie sich die Augen, dass auch Deutschland in die Rolle des Hilfesuchenden kommen kann. Nach Jahren als oberster Euro-Retter ändert sich für Berlin plötzlich die Perspektive.

Die Bundeskanzlerin hat am Dienstag gesagt, es helfe nichts, wenn man sich in dieser Krise öffentlich kritisiere. Das klang erst mal ziemlich lapidar. Für Europa und seine Führungsnation wider Willen wäre es nicht schlecht, wenn in diesen Worten ein neuer Anfang steckte.

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