Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Schleppender Fortschritt

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160000 sollten es sein, 5651 hat man gerade einmal geschafft: Die EU hat bisher nicht so viele Flüchtlinge umverteilt, wie sie sich vorgenommen hatte.

Von Thomas Kirchner, Mike Szymanski, Brüssel/Istanbul

Langsam geht es voran in der Flüchtlingskrise. Aber es geht voran - und in die richtige Richtung. So lässt sich die Bilanz der EU-Kommission zusammenfassen. Die Brüsseler Behörde nannte am Mittwoch aktuelle Zahlen zum Stand der Dinge, vor allem in Griechenland, und beurteilte das Abkommen mit der Türkei.

Schon vor Tagen demonstrierte ein hoher EU-Beamter, wie die Kommission argumentiert. Er verglich die gegenwärtige Lage mit dem Chaos in der zweiten Jahreshälfte 2015, woraus sich automatisch ein positives Fazit ergibt, wenn man etwa auf die stark gesunkene Zahl der Ankommenden aus der Türkei blickt, auf die Tatsache, dass kaum noch jemand ertrinkt oder dass nun fast alle Menschen registriert und nicht mehr einfach nach Norden durchgewinkt werden. "Das Abkommen mit der Türkei führt zu positiven Resultaten", sagte auch Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos am Mittwoch. Außer acht zu geraten drohen durch diese Sichtweise die Stagnation und die zum Teil gefährlichen Entwicklungen in einigen Bereichen, gerade in jüngster Zeit.

Im August kamen nach Angaben der Kommission im Durchschnitt 111 Flüchtlinge pro Tag auf den griechischen Inseln an. Im Oktober 2015 seien es noch 7000 täglich gewesen. Allerdings liegt die August-Zahl etwa doppelt so hoch wie der Durchschnitt von Mai bis Juli, was auf eine Trendumkehr hinweisen könnte. Die Umverteilung von Griechenland in die EU-Staaten geht schleppend voran. Bisher wurden 4455 Menschen aus Griechenland und 1196 aus Italien in andere Länder gebracht. Deutschland nahm 215 auf, Frankreich 1952 und damit die meisten. Angesichts der 160 000, um die die Grenzstaaten bis Ende des Jahres entlastet werden sollen, ist dies wenig. Die Kommission sprach dennoch von einer positiven Entwicklung in jüngster Zeit. "Bei dem Tempo ist es machbar, alle, die dafür in Frage kommen, innerhalb des nächsten Jahres umzuverteilen", so Avramopoulos. Er appellierte an die Staaten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Notfalls will die Behörde rechtliche Schritte einleiten, also Vertragsverletzungsverfahren. Nach Angaben der Kommission kommen weniger Personen für die Umverteilung in Betracht, als oft angenommen werde.

In Griechenland seien es nur etwa 30 000. Noch immer werden kaum Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt. Ankara nimmt alle zurück, die seit April auf den griechischen Inseln landen und deren Asylbegehren für unzulässig erklärt wurde. Bisher waren es 578, darunter 51 Syrer. Weit mehr als die Hälfte von ihnen wurden aber schon im April abgeschoben. Hier sei ein "Flaschenhals", sagte der EU-Beamte, die Asylverfahren seien zu schwerfällig. Die sechs bestehenden Berufungsgremien in Griechenland können nur 200 Fälle im Monat bearbeiten. Nach Ansicht der Kommission muss mehr Personal eingesetzt werden, um Verfahren innerhalb von zwei bis drei Wochen abzuschließen.

Griechenland will wieder Flüchtlinge von den Inseln aufs Festland bringen

Im Ergebnis laufen die griechischen Inseln immer weiter voll mit Flüchtlingen. Für mehr als 13 000 Personen stehen 7450 Plätze zur Verfügung. Die Situation ist so angespannt, dass es Anfang vergangener Woche zu schweren Ausschreitungen im Abschiebelager Moria auf Lesbos kam. Ein Brand zerstörte 60 Prozent der Anlage, mehrere hundert Flüchtlinge wurden obdachlos. Lokalpolitiker warnen seit Monaten vor unhaltbaren Zuständen. Griechenland beabsichtigt nun, Flüchtlinge in großem Stil aufs Festland zu bringen, und zwar nicht nur unbegleitete Minderjährige, sondern jene, die keine Aussicht auf ein Asylverfahren haben. Migranten und Schlepper in der Türkei werden das vermutlich als Signal deuten, dass es nun doch wieder sinnvoll sein könnte, die gefährliche Überquerung der Ägäis zu wagen. Sinn des Abkommens mit der Türkei war es, die Flüchtlinge auf den Inseln zu belassen, um sie von dort aus in die Türkei zurückzuschicken.

Immer noch sehr niedrig ist auch die Zahl der Syrer, die direkt aus der Türkei in die EU-Staaten umgesiedelt werden. Bisher waren es 1614. Das sind zwar mehr, als die EU gemäß dem 1:1-Verfahren versprochen hatte. Gleichzeitig aber erfüllen die Europäer nicht die im März gegebene Zusicherung an Ankara, nach einem Abflauen der akuten Krise Zehn- oder Hunderttausende Syrer aus türkischen Lagern direkt nach Europa zu fliegen.

Der Erfinder des Abkommens mit der Türkei, Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative, wirft der Kommission vor, ein zu schönes Bild zu zeichnen. Die EU müsse den Griechen zum einen dringend mehr bei der Abarbeitung der Asylanträge helfen, etwa in Form einer groß angelegten europäischen "Asylmission". Zweitens müsse der Engpass bei der Abschiebung in die Türkei beseitigt werden. Die griechischen Behörden weigern sich, Flüchtlinge in die Türkei zu schicken, die sie nicht als sicheren Drittstaat anerkennen. Die EU muss die Türkei nach Meinung von Knaus dazu bringen, alles zu tun, um tatsächlich als sicherer Drittstaat für Flüchtlinge auch aus Ländern wie Pakistan oder Irak angesehen zu werden. Alle Bedingungen, die erfüllt werden müssten, werden vom UN-Flüchtlingshilfswerk detailliert beschrieben.

Die Türkei selbst gibt sich in diesem Punkt allerdings wenig kompromissbereit. "Wir sind ein sicheres Land, Punkt", sagt Selim Yenel, der türkische EU-Botschafter in Brüssel. Andere Behauptungen seien lächerlich. Das Abkommen sieht der Diplomat nicht akut gefährdet, allerdings müsse die EU endlich ihre Versprechen halten. Das betreffe die Umsiedlung, aber auch die Visaliberalisierung für türkische Bürger. Die EU besteht darauf, dass die Türkei ihre sehr breite Definition von Terrorismus ändert. Sie könnten nach Auffassung von Experten zur Verfolgung von Journalisten und Andersdenkenden missbraucht werden. Ankara wiederum verweist auf den gerade überstandenen Putschversuch. Beide Seiten versuchen laut Yenel derzeit mit Hilfe von Experten des Europarats einen Wortlaut zu erarbeiten, der den Wünschen der EU entspricht, aber die türkische Regierung "nicht im Kampf gegen den Terror behindert". Eine Einigung bis Ende Oktober sei denkbar.

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SZ vom 29.09.2016
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