Flüchtlinge im Mittelmeer:"Unhaltbare Zustände" an Bord der "Sea-Watch 3"

Flüchtlinge im Mittelmeer: Ein Mann wird am 4. Januar aus dem Meer gezogen, nachdem er von der Sea-Watch 3 gesprungen ist, um an Land zu schwimmen.

Ein Mann wird am 4. Januar aus dem Meer gezogen, nachdem er von der Sea-Watch 3 gesprungen ist, um an Land zu schwimmen.

(Foto: AFP)

Nahrung wird knapp, Krankheitsfälle nehmen zu, EU-Mitgliedstaaten zanken sich: Hilfsorganisationen schlagen Alarm, weil das Rettungsschiff "Sea-Watch 3" noch immer vor Maltas Küste treibt.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel, und Jasmin Siebert, Berlin

Am Dienstag ist Tag 18 der Sea-Watch 3 auf See. Seit dem 22. Dezember treibt das Rettungsschiff vor der Küste Maltas. "Das ist ein schändlicher Rekord", sagt Alina Krobok, Sprecherin der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch, bei einer Pressekonferenz in Berlin. Die Situation sei "menschlich und politisch nicht zu verantworten". Der sichere Hafen ist in Sichtweite, doch das Schiff mit 32 aus Seenot geretteten Geflüchteten und 20 Crewmitgliedern an Bord darf nicht anlegen. Ebenso ergeht es der Professor Albrecht Penck, einem Rettungsschiff der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye, das seit 29. Dezember mit 17 Geflüchteten und 18 Crewmitgliedern an Bord im Mittelmeer unterwegs ist und keine Landeerlaubnis erhält.

Auf den überfüllten Schiffen spitzt sich die Situation immer mehr zu: Während die insgesamt 49 Geflüchteten, darunter fünf Kinder, zum Teil seekrank und geschwächt sind und immer verzweifelter werden, werden Wasser und Nahrung rationiert. Beide Schiffe sind nicht darauf ausgelegt, dauerhaft so viele Menschen zu beherbergen.

Angesichts der angespannten Lage auf den beiden Schiffen fordert die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten der EU zum Handeln auf: "Die Menschen an Bord der Schiffe müssen sicher und ohne weitere Verzögerungen an Land gehen", sagt ein Sprecher der Kommission.

Am Montag haben sich neun Mitgliedstaaten bei einem Treffen der EU-Botschafter zwar dazu bereit erklärt, die Menschen in ihren Ländern aufzunehmen, darunter Deutschland und Rumänien. Das Land hat gerade den Vorsitz im Europäischen Rat übernommen und will offenbar mit gutem Beispiel vorangehen. Malta will aber, dass nicht nur der Verbleib der Geflüchteten auf den Booten, sondern auch der von 249 weiteren Schiffbrüchigen geklärt wird, die die Küstenwache des Landes bereits an Land gebracht hat. Man sei weiterhin in "intensivem Austausch", so der Kommissionssprecher.

Ein EU-Diplomat nennt es "ernüchternd", dass sich nur so wenige Mitgliedstaaten bereit erklärten, Menschen aufzunehmen: "Es stellt sich da schon die Frage, was europäische Solidarität und Verantwortung für die anderen EU-Mitgliedstaaten bedeutet - insbesondere für diejenigen in Zentral- und Osteuropa, die nur wenig von Migrationsbewegungen betroffen sind." An diesem Mittwoch will sich EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos erneut in der Sache zu Wort melden.

Derweil verschlechtern sich die Zustände auf den Schiffen weiter. Verbena Bothe war bis zum Crewwechsel vor wenigen Tagen auf der Sea-Watch 3. Jetzt ist sie zurück in Berlin und erzählt auf der Pressekonferenz über die Lage an Bord. Die 30-jährige Ärztin und kulturelle Vermittlerin berichtet mit ernster Stimme von den unhaltbaren Zuständen, die sie aus medizinischer Sicht längst als "Notfall" einstuft: Zunächst sei die Stimmung gut gewesen und sie hätten gemeinsam Weihnachten gefeiert. Dabei mussten die geretteten Menschen wegen Platzmangels auf Decken draußen auf dem viel zu kalten Achterdeck schlafen. Weil die Wasseraufbereitungsanlage defekt sei, sei Körperhygiene nur noch eingeschränkt möglich. Auch sei zu wenig vitaminreiche Nahrung an Bord.

Viele Gerettete berichteten von Folter in libyschen Gefängnissen, von Freunden, die vor ihren Augen erschossen worden oder bei früheren Fluchtversuchen ins Meer gesprungen seien, um nicht nach Libyen zurückgebracht zu werden. Ein Sturm vor wenigen Tagen hätte viele Menschen retraumatisiert, da die Crew die Geretteten wegen der hohen Wellen einsperren musste. Viele seien seekrank geworden und hätten sich geweigert zu essen. Doch die Solidarität unter den Geretteten sei groß, gegenseitig ermunterten sie sich trotz Erbrechens und Durchfalls zu essen und zu trinken.

Während sie erzählt, legt die Ärztin mit den kurzgeschorenen Haaren beide Hände auf ihr Herz, dann faltet sie sie wie zum Gebet. Es war ihr erster Einsatz und sie ist sichtlich bewegt. An Bord seien auch drei Kinder, ein, sechs und sieben Jahre alt. Sie seien unterentwickelt und geschwächt, eines der Kinder sei zuvor in einem libyschen Abschiebegefängnis eingesperrt gewesen. "Bei diesen Menschen kann Seekrankheit lebensgefährlich werden, besonders in Kombination mit Unterkühlung", warnt die Ärztin.

"Man fragt sich, wie viel moralische Armut man noch ertragen kann"

Ob erst Menschen sterben müssen, ehe die Politik etwas tue, fragt Erik Marquardt. Der Grünen-Politiker und Fotograf engagiert sich für die Organisation Sea-Eye, deren Rettungsschiff das erste unter deutscher Flagge ist. Er geißelt die "schändliche Situation" und den "Wortbruch der Bundesregierung". Als das Schiff früher unter niederländischer Flagge fuhr, hieß es, der Flaggenstaat sei zuständig, nun wolle sich die deutsche Regierung erst mit anderen EU-Staaten abstimmen. Regierungssprecher Steffen Seibert hat am Montag in Berlin "eine dauerhafte, europäische, solidarische Lösung" gefordert, und nicht "jeweils neue Verhandlungen mit jedem neuen Schiff".

In Deutschland haben sich bereits mehr als 30 Kommunen und Bundesländer bereit erklärt, die geretteten Flüchtlinge aufzunehmen. Das dürfen sie nach Paragraf 23, Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes aus humanitären Gründen auch tun, jedoch muss der Innenminister zustimmen. Innenminister Seehofer sagte am Dienstag in Berlin, Deutschland habe seit Monaten zur Voraussetzung gemacht, dass eine "beachtliche" Zahl von EU-Ländern im Sinne einer gemeinsamen Solidarität mitmache. Dies scheine nun der Fall zu sein. Nun müsse die EU-Kommission in Brüssel entscheiden.

Es sei "erbärmlich", sagt Marquardt, dass mit allen Mitteln versucht werde, zu verhindern, dass Menschen gerettet werden. "Man fragt sich, wie viel moralische Armut man noch ertragen kann in der Europäischen Union", so der 31-Jährige.

Ebenso wie die Sea-Watch-Vertreter fordert er nachhaltige politische Lösungen - jedoch müssten die geretteten Menschen zuerst an Land gebracht werden. "Es geht um 49 Leute, auf deren Rücken seit Wochen internationale Politik betrieben wird", beklagt Marquardt. Kritiker argumentieren, dass jeder Mensch, der aus dem Meer gerettet wird, andere ermutige, ebenfalls den Weg über das Meer zu wählen.

Tatsächlich hat die Abschreckungspolitik der EU dazu geführt, dass die Zahl der Überfahrten und damit die der Geflüchteten, die Europa erreichen, in den vergangenen beiden Jahren zurückgegangen ist. Laut der Rettungsorganisationen sei jedoch die Zahl der Toten im Verhältnis dazu gestiegen. Wie viele es genau sind, kann niemand sagen, denn momentan sind keine Rettungsschiffe mehr im Einsatzgebiet.

Die Ärztin Verbena Bothe erzählt dann noch von dem blöden Gefühl, das sie wie viele Crewmitglieder überkam, weil sie mit ihren europäischen Pässen einfach so an Land und zurück zur Arbeit oder Uni gehen konnten. Die Geretteten dagegen bleiben weiterhin Gestrandete, die nicht wissen, was der nächste Tag bringen wird.

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