Süddeutsche Zeitung

Flucht über das Mittelmeer:"Die echten Probleme liegen an Land"

Fast täglich geraten Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer in Seenot. Meist legen die Boote in Libyen ab. Was die Menschen in die Arme von Schleusern treibt und warum sie nicht zurück nach Hause können, schildert Federico Soda, Missionschef der IOM.

Von Andrea Bachstein

Der Kanadier Federico Soda ist als Missionschef der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit 2019 verantwortlich für IOM-Programme und 450 Mitarbeiter in Libyen. Beim Videointerview sitzt er in seinem Büro in Tripolis. Der UN-Organisation IOM gehören 174 Länder an, sie hat Stützpunkte in 100 Staaten. Die IOM unterstützt Länder in der Migrationspolitik und steht Migranten bei mit humanitärer Hilfe, begleitet sie in Notlagen und mit nachhaltigen Projekten. Libyen ist Hauptausgangspunkt der Boote mit Flüchtlingen und Migranten, die über das zentrale Mittelmeer nach Europa wollen. Dabei sind 2021 bereits mehr als 1000 Menschen umgekommen. Libyen hat eine Übergangsregierung, die Wahlen vorbereitet. Mehrere Bürgerkriegsphasen hatten seit 2011 das Land ins Chaos und zu einer De-facto-Teilung ohne funktionierende Staatsmacht geführt.

SZ: Ist die Lage in Libyen einigermaßen entspannt?

Federico Soda: Mit dem Waffenstillstand und der politischen Entwicklung ist die Sicherheitslage seit einigen Monaten relativ ruhig. Für uns ist es an anderer Stelle nicht ruhig, es passiert viel Trauriges am Mittelmeer. Die Zahl der nach Libyen zurückgewiesenen Flüchtlinge und Migranten ist recht hoch, bisher gut 22 000, im Vorjahr waren es etwas mehr als 11 000.

Auch auf der anderen Seite des Mittelmeers verzeichnet man steigende Zahlen.

Italien zählt eine ganze Menge Ankünfte, da sind aber auch die dabei, die aus Tunesien kommen. Jedenfalls sind bisher gut 37 000 Migranten gelandet. Das sind Zahlen, die mit besserem Migrationsmanagement zu bewältigen sind.

In Europa neigt man dazu, nur auf die Zahl der Ankommenden zu schauen. Das ist interessant im Blick auf das Narrativ der Migration. Aber es kann auch gefährlich sein, weil es zu Stimmung gegen Migranten und falschen Vorhersagen führt. Und auch dazu, dass man die treibenden Faktoren ignoriert und das Leid, das in Libyen herrscht.

Wie viele Migranten und Flüchtlinge sind in Libyen?

Etwa 580 000. Es gab einen Rückgang um 80 000 Personen, der hauptsächlich seit Covid begann.

Woher kommen die Migranten?

Fast zwei Drittel aus den vier Nachbarländern Niger, Sudan, Tschad, Ägypten. Nimmt man Nigeria dazu, kommen 75 Prozent aus nur fünf Ländern. Die übrigen sind vor allem Westafrikaner aus Subsahara-Staaten und Ostafrikaner. Und die allermeisten Migranten versuchen gar nicht, per Boot aus Libyen nach Europa zu gelangen. Sie sind hier, um Arbeit zu finden.

In Europa haben wir es mit der relativ kleinen Gruppe jener zu tun, die sich in Libyen in teils entsetzlichen Bedingungen befinden. Das treibt sie dazu, über das Mittelmeer zu entkommen. Und das wird so lange gehen, bis es hier Stabilität und Sicherheit gibt und die Schleuserkriminalität eingedämmt wird.

Wie hat sich die Pandemie ausgewirkt?

2020 war ein sehr schweres Jahr in Libyen. Besonders zu Beginn wegen der heftigen Kämpfe im Raum Tripolis (zwischen Truppen des Generals Khalifa Haftar und denen der international anerkannten Regierung, Anm. d. Red.). Covid und der Konflikt haben Migranten und Flüchtlinge in schwierigste Lagen gebracht. Als die Kämpfe nachließen, kamen Lockdowns und andere Beschränkungen. Das hat verheerende Folgen für Menschen, die als Tagelöhner leben. Die IOM hat viel getan, um ihnen ein Sicherheitsnetz zu bieten, der Bedarf an Nahrungshilfe stieg wie nie zuvor.

Die Pandemie erreichte Libyen im Mai 2020, und die gesunkene Migrantenzahl liegt vor allem an ihr. Es ist wahrscheinlich, dass viele aus den Nachbarstaaten, die über Landgrenzen konnten, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Unsicherheit in Libyen zurückgekehrt sind. Andere, die keine oder nicht genug Hilfe hatten, trieb das dazu, das Land auf anderem Weg zu verlassen.

Warum entscheiden sich die Leute auch für Schmugglerboote?

Für einen Teil ist die Rückreise in ihre Länder zu teuer und schwierig. Nach Libyen zu gelangen, ist sehr schwer, wegzukommen genauso. Vor allem Westafrikaner sagen, dass sie kaum aus eigener Kraft zurückkönnen. Selbst wenn sie Geld haben, sind die legalen Möglichkeiten sehr begrenzt. Mangels legaler Wege zum Durchqueren Afrikas fällt es leicht, sich an Schleuser zu wenden.

Mit dem IOM-Rückkehrprogramm haben wir 55 000 Menschen seit 2015 heimgebracht. Aber am Höhepunkt der Pandemie 2020 geriet auch das ins Stocken, es gab keine Flüge und andere Beschränkungen.

Wer übers Meer will, gerät oft an Libyens Küstenwache. Ihr wurde Gewalt gegen Migranten vorgeworfen, dass sie Schiffbrüchige im Stich ließ.

Wie die Zahl der zurückgebrachten Leute zeigt, hat Libyens Küstenwache durch die Unterstützung (Italiens und der EU, Anm. d. Red.) eine deutlich höhere operative Kapazität als vergangenes Jahr und davor. Was wirklich auf See passiert, ist aber sehr schwer zu sagen. Es ist wie ein schwarzes Loch. Manchmal haben wir Augenzeugenberichte von Migranten, aber viele sind traumatisiert und nicht in der Lage, die Details ihrer Überfahrt wiederzugeben. Ich weiß nicht, inwieweit die Küstenwache internationale Standards einhält. Aber sicher ist, dass sie in mehreren Fällen eingegriffen hat, als Boote gekentert waren. Die Lage auf dem Mittelmeer wäre ohne die privaten Rettungsmissionen und ohne Libyens Küstenwache, die Leute aus dem Wasser holt, viel schlimmer.

Für viele ist es auch schlimm, wieder nach Libyen gebracht zu werden.

Das besorgt mich fast mehr. Was die Behandlung der Migranten und Rechtsverstöße betrifft, gibt es mehr Risiken an Land als auf See. Die Küstenwache ist besser geworden, doch der Punkt ist: Die Leute, die sie festnimmt, gelangen in die Hände der Behörde zur Kontrolle illegaler Migration (DCIM). Die meisten landen in Haftlagern in Tripolis. Daher ist die Problematik Küstenwache etwas irreführend, die echten Probleme liegen an Land.

Inwieweit hat die IOM Zugang zu den wegen katastrophaler Zustände berüchtigten Lagern?

Derzeit können unsere medizinischen Teams hinein, Teams, die sich um den Schutz der Leute kümmern, um Hygiene, Desinfektion und Covid-Vorsorge. Wir versuchen, den Leuten unter den erbärmlichen Bedingungen ein Mindestmaß an Würde zu gewährleisten. Wir haben schon sehr deutlich gemacht, dass die willkürlichen Inhaftierungen unter diesen Bedingungen inakzeptabel sind. Es befinden sich 6000 Menschen in diesen Haftzentren, doppelt so viele wie zu Jahresbeginn.

Wie läuft für IOM die Arbeit mit den Behörden?

Es ist ein schwieriger Akt in einem schwierigen Kontext. Die Macht des zentralen Regierungsapparats zur Durchsetzung von Recht und Gesetz ist weiter begrenzt. Eine Frage ist, wo bleiben die übrigen der 20 000 von der Küstenwache Zurückgeholten, die nicht in Lager kommen? Die kümmern die Behörden nicht sehr. Es gibt immer noch keine Kette von Schutzmaßnahmen. Und solange es keinen umfassenden Schutz gibt, können wir nicht sagen, dass Libyen ein sicherer Ort ist, um Menschen dorthin zurückzubringen.

Das Geschäftsmodell der Schleuserbanden ist unangetastet?

Nur, weil nicht viel gekämpft wird, hören kriminelle Aktivitäten nicht auf. Die Probleme sind dieselben wie seit Jahren. Menschenhandel endet nicht, weil es eine neue Regierung gibt oder Kämpfe aufhören. Ein Teil dieser Kriminalität ist stark im Land verwurzelt, ich denke, das Problem bleibt.

NGO-Schiffe voller Geretteter müssen fast immer auf die Zuweisung eines Hafens warten. Das liegt am immer selben Problem: in Europa eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen und Migranten zu etablieren.

Unsere Position ist klar: Im zentralen Mittelmeer wird dringend ein sicherer, vorhersehbarer Ausschiffungsmechanismus benötigt. Dies war unsere Empfehlung an die Staaten, und sie müssen konkrete Maßnahmen ergreifen. Die nachhaltige Lösung liegt aber nicht auf dem Meer oder auf Rettungsschiffen. Dies sollten vorläufige Maßnahmen sein, während man nachhaltigere Lösungen sucht. Die EU braucht eine umfassende Migrations- und Asylpolitik. Und es braucht ein stabiles, friedliches Libyen, das Migration steuern kann, das ein sicherer Ort für Arbeitsmigranten ist, die zu seiner Wirtschaft beitragen.

Muss Europa wieder eine Seenotrettungsmission starten?

Leben zu retten, ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung. In der Vergangenheit hat die proaktive europäische Seennotrettung Hunderttausende Leben gerettet. IOM hat die europäischen Länder aufgefordert, die staatlich geführte Seenotrettung wieder einzusetzen. Aber dafür ist mehr Solidarität und Verantwortungsteilung in Europa nötig.

Es gibt den Vorwurf, eine Rettungsmission könne Überfahrten provozieren, ein Pull-Faktor sein. Das halten einige auch privaten Rettungsorganisationen vor.

Es gibt keine Daten oder Anhaltspunkte dafür, dass lebensrettende Einsätze ein Pull-Faktor sind. Die Boote starten jetzt trotz fehlender Rettungskapazitäten.

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