Süddeutsche Zeitung

Seenotrettung:Eine Bankrotterklärung der Menschlichkeit

Die EU stellt ihren Marineeinsatz zur Rettung von Flüchtlingen und Migranten auf dem Mittelmeer nahezu ein. Die Konsequenzen werden tödlich sein.

Kommentar von Andrea Bachstein

Es ist durchaus konsequent, dass die Europäische Union ihren Marineeinsatz Operation "Sophia" nun so gut wie beendet hat. Von der Mission zur Bekämpfung von Schleusern und zur Rettung von Flüchtlingen im zentralen Mittelmeer bleibt als Feigenblatt nur noch eine Flugüberwachung übrig - aber kein Schiff mehr. Dies ist eine Kapitulation vor politischem Zynismus, Erpressung und nationalen Egoismen.

Die Marineschiffe, deren Mannschaften seit 2015 mindestens 50 000 Menschen ihr Leben verdanken, werden abgezogen, weil sie seit Monaten nicht mehr zum Einsatz kommen. Das ist Wille und Werk populistischer Politiker. Allen voran von Italiens Vizepremier Matteo Salvini. Der hat die Zuständigkeit für die Seenotrettung der Bootsflüchtlinge aus Libyen der libyschen Küstenwache zugeschoben. Diese ist jedoch, was ihre Ausbildung und Ausrüstung anbelangt, dazu nur ansatzweise fähig; und sie arbeitet offenkundig auch nicht systematisch mit anderen Kräften wie den Sophia-Schiffen zusammen.

Die privaten Seenotretter hat Italien bereits vertrieben. Salvini lässt sie nicht mehr an Land, er hat mehrmals übervollen Rettungsschiffen die Einfahrt in italienische Häfen verweigert. Selbst eigene Küstenwachschiffe sperrte er auf dem Meer aus - obwohl die Zahlen der Flüchtlinge und Migranten, die von Libyen aus Italien zu erreichen versuchen, um etwa 80 Prozent gesunken war.

Die Todesrate stieg zuletzt

Mit solchen unwürdigen Spektakeln wollte der Populist erzwingen, dass sich andere EU-Länder stärker an der Aufnahme der Migranten und Flüchtlinge beteiligen. Doch dem verweigern sich nach wie vor die rechtspopulistischen Regierungen in Polen und Ungarn. Damit liefern sie wieder Italiens Populisten deren Rechtfertigung. So schließt sich der Kreis, und so wurde schließlich auch "Sophia" lahmgelegt.

Das Ergebnis ist mit Sicherheit tödlich. Auch wenn sich die Hauptroute der Flüchtlinge, die über Afrika nach Europa gelangen wollen, nach Spanien verlagert hat, ist die sogenannte Zentrale Mittelmeerroute die schlimmste Todesstrecke. Das zeichnete sich schon im vergangenen Jahr ab. Das Risiko für jeden Einzelnen, im Meer zwischen Libyen und Italien zu sterben, stieg, seit die privaten Retter ab dem Sommer nicht mehr zum Einsatz kamen und die Libyer die Aufgabe der italienischen Küstenwache übernahmen - aber nur mangelhaft ausführten.

Die Internationale Organisation für Migration berechnete, dass im vergangenen Jahr 3,4 Prozent der Bootsflüchtlinge im zentralen Mittelmeer umkamen, das sind 359 Menschen von 10 600. In den ersten drei Monaten 2019 stieg die Todesrate auf 11,5 Prozent: 160 Menschen von 1400, die Richtung Europa aufbrachen, kamen dort nie an.

Dass man in Brüssel nun keinen anderen Weg sah, als "Sophia" de facto zu beenden, ist nicht nur ein Beleg für die partielle Kraftlosigkeit der EU. Man kann es auch als Bankrotterklärung sehen.

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