USA:Mit dem Fernbus Richtung Kanada

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Und an der Busstation von Plattsburgh weiter mit dem Taxi: Tom fährt die Migranten für 70 Dollar pro Passagier oder 90 Dollar für Familien über die Grenze. (Foto: Fabian Fellmann)

Um Asylbewerber loszuwerden, zahlt die Stadt New York Bustickets an die eiskalte kanadische Grenze. Weiter geht es mit dem Taxi. Auf der anderen Seite ist der Empfang warmherziger. Die Frage ist, wie lange noch.

Von Fabian Fellmann, Plattsburgh/Champlain

Die Roxham Road ist eine vereiste Kiesstraße wie Tausende andere im einsamen Norden des Bundesstaats New York - wären da nicht die riesigen Steinblöcke, die sie nach knapp einem Kilometer zur Sackgasse machen. Hier enden die Vereinigten Staaten von Amerika, das Land so vieler hochfliegender Träume. Auf dem matschigen Wendeplatz haben im vergangenen Jahr exakt 39 171 Menschen ihre Träume vom besseren Leben in den USA zurückgelassen, zehnmal mehr als im Jahr zuvor.

Der Rekordwert ist amtlich festgehalten von der Royal Canadian Mounted Police, den Mounties, die hinter den Steinblöcken wartet. Nirgendwo sonst versuchen so viele Menschen, aus den USA ins Nachbarland im Norden zu gelangen, obwohl das verboten ist. Auch an diesem Februartag werden es wieder mehrere Hundert Menschen tun.

Maryangel Diaz und ihr Mann Luis Rangel gehören dazu. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit steigt das Paar aus Venezuela in der nächstgelegenen US-Stadt Plattsburgh aus dem Fernbus. Würden die beiden sitzen bleiben, wären sie zwei Stunden später in der kanadischen Millionenstadt Montreal. Doch der Bus fährt durch einen offiziellen Grenzposten. Dort würden die beiden zurückgewiesen und von den US-Behörden verhaftet: Kanada und die Vereinigten Staaten haben einander in einem Staatsvertrag als sichere Länder für Asylbewerber anerkannt.

Viele Menschen sehen hier zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee

Am inoffiziellen Übergang am Ende der Roxham Road gilt die Regelung nicht. Mehr als zwei Dutzend Menschen jeden Alters, mehrere mit kleinen Kindern, verlassen darum in Plattsburgh den Bus. Sie kommen aus Venezuela, Kolumbien, Haiti, Angola, viele sehen hier zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee. Ihre Geschichten sind ganz verschieden und doch sehr ähnlich, mit langen Reisen zuerst nach Mexiko und dann in die USA.

"Seit vier Monaten sind wir unterwegs", erzählt Diaz. Zu unsicher war es in Venezuela, ihrer Heimat. Sie wollten "eine bessere Zukunft für unsere Kinder", sagt Rangel. Also sind die beiden mehr als 8000 Kilometer weit gereist, auf einem gefährlichen Marsch durch ganz Mittelamerika bis nach New York City.

Die reiche Großstadt aber will Menschen wie Diaz und Rangel nicht mehr aufnehmen. Bürgermeister Eric Adams hat den Notstand ausgerufen: Die Asylzentren seien überlastet. Lautstark beklagte er sich dabei über republikanische Gouverneure in den Südstaaten: Sie lassen Tausende Asylbewerber mit Bussen in von Demokraten regierte Großstädte fahren.

Sofort stürzen sich Taxifahrer auf die Passagiere

Ähnlich umstrittene Methoden nutzt indes auch die Stadt New York, wie US-Medien vor Kurzem aufgedeckt haben. Freiwilligenorganisationen helfen Migranten, weiter nach Norden zu reisen, und kaufen ihnen dafür Bustickets. Die Kosten übernimmt die Stadtverwaltung.

So landen Menschen wie Maryangel Diaz und Luis Rangel an der Busstation von Plattsburgh. Wobei Station eine Übertreibung ist für den Parkplatz einer gottverlassenen Tankstelle im Niemandsland vor dem Städtchen, das selbst Amerikaner, wenn überhaupt, nur aus dem Geschichtsunterricht kennen. 1814 lieferten sich US-amerikanische und britisch-kanadische Truppen dort eine ihrer letzten Schlachten.

Sofort stürzen sich Taxifahrer auf die Buspassagiere. Tom wedelt mit einem Papierschild: 70 Dollar pro Passagier, 90 Dollar für Familien. Seinen Namen will der Fahrer nicht nennen, obwohl er sein Geschäft ganz legal betreibt. Tag für Tag steht er an der Tankstelle, wenn die Fernbusse aus New York ankommen.

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Selbst Grenzwächter sollen dabei erwischt worden sein, wie sie in der Freizeit Migranten an die Roxham Road fuhren. Die kanadischen Behörden haben deswegen vor Kurzem bei den US-Kollegen interveniert, die Ermittlungen einleiteten.

In Kanada sei alles viel schneller und unkomplizierter, sagt Luis Rangel

Viele US-Amerikaner scheinen ganz froh zu sein, sich der Migranten entledigen zu können. Ihre Grenzwächter jedenfalls lassen sich kaum blicken. Von Gesetzes wegen sollten die Vereinigten Staaten Asylanträge innerhalb von 180 Tagen beantworten. In Wahrheit dauert der Prozess im Durchschnitt mehr als vier Jahre.

Mit der amerikanischen Bürokratie wollen sich auch Dias und Rangel nicht herumschlagen. In Kanada sei alles viel schneller und unkomplizierter, sagt Rangel, und deutet auf den Bus: Von einer Stelle als Chauffeur in Montreal träumt er, auch als Maler könne er arbeiten. Maryangel will wissen, ob Französisch schwierig zu lernen sei. In Montreal schlägt man sich mit Englisch noch durch. Im Rest der Provinz hingegen ist es zwingend, den besonderen französischen Dialekt von Quebec zu verstehen.

Von Plattsburgh dauert die Fahrt an die Roxham Road 25 Minuten. Dort geht alles ganz schnell. Mehrere Taxis halten an, die Fahrgäste schnappen ihr Gepäck und marschieren los. Kaum schafft es Janet, jedem Kind ein Plüschtier in die Hand zu drücken. Den Erwachsenen verteilt sie Handschuhe, Mützen und Wärmejacken. Jeden Tag steht sie hier, die Gemeindepräsidentin des Grenzorts Champlain. "Ich will den Menschen ein Zeichen geben, dass sie wahrgenommen werden in einem schwierigen Moment", sagt Janet.

Nur wenige seien ausgerüstet für die Eiseskälte im Norden, sagt sie, während sie einem Haitianer eine gefütterte Jacke um die Schultern legt. Auch sie bittet darum, nicht ihren vollen Namen zu erwähnen, sagt sie. Tauche sie in den Medien auf, erhalte sie wieder mehr Drohungen, weil sie Migranten helfe - nicht von ihren Landsleuten, sondern von Kanadiern.

Kanada lehnt rund die Hälfte der Asylanträge ab

Vorerst aber werden die Ankömmlinge drüben einigermaßen freundlich empfangen. In einem Windschutztunnel aus Plastik warten sie auf Einlass in einen Container, Aufnahme der Personalien. Nach 24 Stunden bei der Einwanderungsbehörde geht es weiter, für die meisten nach Montreal. Innerhalb weniger Tage erhalten Asylbewerber einen Ausweis, der Zugang zu den wichtigsten Gesundheitsdiensten gibt. Nach wenigen Monaten folgt eine temporäre Arbeitserlaubnis.

Der Erfolg des kanadischen Systems ist messbar. Auf acht Millionen Einwohner zählt Quebec mehr als 300 000 Menschen mit hängigem Asylgesuch, zwei Drittel von ihnen haben laut amtlicher Statistik einen Job. Das Leben ist für Asylbewerber deswegen noch lange kein Zuckerschlecken. Viele arbeiten auf Beeren- und Gemüsefeldern oder in Schlachthöfen, wo die Arbeitsbedingungen prekär und die Löhne niedrig sind. Zudem lehnt Kanada rund die Hälfte der Asylanträge ab. Entsprechend steigt die Zahl der Menschen, die sich ohne gültige Papiere durchschlagen.

Die Rekordzahlen führen auch zunehmend zu innenpolitischen Spannungen. Jubelnd verkündete die linksliberale Regierung von Justin Trudeau im Januar: "Kanada hat 2022 eine historische Zahl von Neuankömmlingen willkommen geheißen." Das sei eine "historische Errungenschaft", zu verdanken in erster Linie der stark ausgebauten legalen Zuwanderung, aber eben auch Migranten wie Maryangel Diaz und Luis Rangel.

Flüchtlingsminister Sean Fraser freute sich schon auf weitere Rekordzahlen im Jahr 2023: "Neuankömmlinge spielen eine entscheidende Rolle bei der Beseitigung des Arbeitskräftemangels, sie bringen neue Sichtweisen und bereichern unsere Gesellschaft als Ganzes."

In der Bevölkerung sind die Sorgen über die Bewältigung der hohen Zuwanderung verbreitet

Der Bloc Québécois mag diese Vision nicht teilen. "Québec ist kein All-inclusive-Hotel", twitterte die sozialdemokratische Separatistenpartei, die für die Unabhängigkeit ihrer Provinz vom anglophon dominierten Kanada kämpft. Umgehend beklagte sich die ebenfalls sozialdemokratische Partei Québec solidaire über den "besorgniserregenden Ton": Flüchtlinge kämen nicht für den Urlaub in den Norden.

Die Sorgen über die Bewältigung der hohen Zuwanderung an der grünen Grenze sind in der Bevölkerung verbreitet. Die Betreuungsstrukturen gerieten an den Anschlag, sagt selbst eine Ärztin, die eine Klinik für Flüchtlinge aufgebaut hat. Kanadas Ressourcen seien begrenzt, besonders jene der Provinz Quebec, die mit der Regierung in Ottawa ohnehin ein angespanntes Verhältnis pflegt. Premierminister Trudeau habe 2017 einen Fehler begangen, sagen viele. Als Trump die Grenze für Muslime dichtmachte, rief Trudeau die kanadische Version von Angela Merkels Willkommenskultur aus. Sofort stiegen die Einwanderungszahlen rasant.

Luis Rangel hofft auf eine bessere Zukunft in Kanada. (Foto: Fabian Fellmann)

Nun, nach Covid, muss Trudeau zu Notmaßnahmen greifen. Er lässt die Asylbewerber nun im ganzen Land verteilen, um Quebec zu entlasten. Er verspricht zudem seit Monaten, mit den USA Verhandlungen aufzunehmen, um den Staatsvertrag zu ändern, damit die Migranten wenigstens nicht mehr über die grüne Grenze kommen. Geschehen ist das bisher nicht.

Ob Maryangel Diaz und Luis Rangel die erhoffte bessere Zukunft in Montreal finden werden, ist auch mehrere Tage nach ihrer Fahrt an die Roxham Road ungewiss. Soeben hätten sie das Gebäude der Einwanderungsbehörde verlassen, schreiben sie per Whatsapp. Etwas müde seien sie, aber es gehe ihnen ganz gut, "gracias a dios", Gott sei Dank. Die Behörden bringen sie aber nicht nach Montreal, sondern in eine temporäre Unterkunft in der Provinz Ontario: die im Winter leer stehenden Touristenhotels an den Niagara-Fällen.

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