Griechenland:"Dieser Türkei-Deal hat nie funktioniert und wird nie funktionieren"

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Im sicheren Hafen: Flüchtlinge verlassen auf der griechischen Insel Lesbos ein Patrouillenboot der EU-Grenzschutzagentur Frontex. (Foto: Reuters; Bearbeitung SZ)
  • Über die Türkei nach Griechenland geflohene Migranten sollen auf fünf Inseln bleiben, bis über ihr Asyl entschieden ist, die Türkei soll abgelehnte Migranten zurücknehmen.
  • Weil so viele Menschen nach Griechenland kommen, sind die Lager auf den Inseln teilweise drastisch überfüllt. Der Verteidigungsminister spricht von einer nationalen Krise.
  • Die langsame griechische Bürokratie verzögert die Dauer vieler Asylverfahren.

Von Christiane Schlötzer, Athen

Auf mehreren griechischen Inseln, die Ziel von Flüchtlingen sind, spitzt sich die Lage zu. Bei Unruhen in dem überfüllten Lager Moria auf Lesbos sind am Sonntag offenbar eine Mutter und ihr Kind ums Leben gekommen. Das teilte das örtliche Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mit. "Die Situation ist angespannt", sagte der Bürgermeister von Lesbos, Stratis Kytelis. Migranten hätten laut Polizei ein Feuer in einem Olivenhain außerhalb des Lagers gelegt und wenige Minuten später auch im Inneren. In dem Lager leben rund 12 000 Menschen - ausgelegt ist es nur für 3000.

Auch im Meer sterben weiter Menschen. Die griechische Küstenwache fand fünf Kinder und zwei Frauen tot im Wasser; ihr Schlauchboot war gekentert. Die übrigen zwölf Passagiere wurden von einer Patrouille der EU-Grenzschutzagentur Frontex gerettet. Alle sind Türken, sie baten in Griechenland um politisches Asyl.

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Dass auch Türken aus Angst vor Verfolgung aus ihrem Land fliehen - unter den Geretteten sind zwei Professoren -, macht die Lage für Athen zusätzlich kompliziert. Seit Juni kommen auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos und Kos fast täglich Hunderte Migranten an. "Es sind nicht so viele wie 2015, aber 43 Prozent mehr als vergangenes Jahr", sagt Philippe Leclerc vom UNHCR. 2015 flohen etwa eine Million Menschen über die Türkei nach Europa. Im März 2016 vereinbarten die EU und die Türkei: Alle Geflüchteten sollten in Lagern auf fünf Inseln bleiben, bis über ihr Asyl entschieden ist, die Türkei soll abgelehnte Migranten zurücknehmen.

Um den Bestand dieses "Türkei-Deals" fürchtet nun nicht nur die Regierung in Athen, sondern auch Innenminister Horst Seehofer (CSU), der gerade mit Frankreich, Malta und Italien einen Verteilmechanismus für gerettete Bootsflüchtlinge durchgesetzt hat. Diese "Initiative von Malta" soll vorerst sechs Monate gelten, um den Druck auf Italien zu lindern. In Griechenland aber ist die Lage weit dramatischer, wie man auch in Berlin weiß. In Griechenland kamen laut der Internationalen Organisation für Migration in diesem Jahr schon 36 209 Geflüchtete an, in Italien 7043.

"Wer heute auf Lesbos ankommt, muss bis April 2022 auf sein erstes Asyl-Interview warten"

Seehofer will diesen Donnerstag zuerst in die Türkei und dann nach Griechenland reisen, zusammen mit seinem französischen Kollegen Christophe Castaner. In der Türkei wolle er sich "informieren, wie es steht um die Flüchtlingssituation", sagte der CSU-Politiker. In Athen gehe es um die "administrativen Probleme der Griechen" und mögliche Abhilfe. "Wer heute auf Lesbos ankommt, muss bis April 2022 auf sein erstes Asyl-Interview warten", sagte ein hoher griechischer Beamter der Süddeutschen Zeitung. In den fünf sogenannten Hotspots auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos harren derzeit fast 30 000 Menschen aus, fünfmal so viele wie die Lager eigentlich aufnehmen können. Die Regierung wolle jetzt zügig bis zu 10 000 Menschen aufs Festland bringen, schreibt die Zeitung Kathimerini. Am Montag berät das Kabinett in Athen über ein Gesetz zur Beschleunigung der Asylverfahren. Für den Verteidigungsminister hat der Anstieg der Flüchtlingszahlen bereits "die Dimensionen einer nationalen Krise".

Leclerc vom UNHCR spricht von einer "Notsituation", die Notmaßnahmen erfordere. Die griechische Bürokratie sei nur leider langsam und kompliziert, auch bei der Rekrutierung von zusätzlichem Personal. "Man will nun jeden Korruptionsverdacht vermeiden", sagt Leclerc, jeder sichere sich deshalb drei- und vierfach ab, mit Unterschriften und Parlamentsbeschlüssen. "Das Gesundheitsministerium brauchte eineinhalb Jahre, um mehr Ärzte und Übersetzer anzustellen."

"In Samos hausen 5000 Menschen auf einem Berg"

"Macht Druck auf die Türkei", sagt der hohe Beamte in Athen, der namentlich nicht genannt werden will. Kanzlerin Angela Merkel hat nach SZ-Informationen bereits zweimal mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan gesprochen, bei der UN-Vollversammlung und am Telefon. In Athen sagen sie, es gebe mehrere Gründe für die aktuelle Lage: stärkeren Druck auf Syrer in Istanbul, die schon um ihre Zukunft in der Türkei fürchten. Erdoğan spricht fast täglich über eine 32 Kilometer tiefe "Sicherheitszone" in Syrien, in die er mehr als eine Million Menschen umsiedeln möchte. Die Regierung in Damaskus wiederum fordert den Abzug aller fremden Truppen aus Syrien, auch der türkischen, und droht andernfalls mit "Gegenmaßnahmen". Syrer stellen die zweitgrößte Gruppe der Geflüchteten auf den Inseln: 14 Prozent. 40 Prozent sind Afghanen.

Leclerc sagt, eine Million Afghanen lebten in Iran, und "die Sanktionen gegen Iran haben die ökonomische Situation auch dort verschärft". Viele flüchten über die Türkei. Fast 60 Prozent aller Neuankömmlinge sind laut UNHCR Frauen und Kinder. Apostolos Veizis, Chef von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, beschreibt die Lage als "äußerst gespannt". Es fehle an allem. "In Samos hausen 5000 Menschen auf einem Berg." Es sei falsch, die Menschen auf die Inseln zu zwingen, denn "dieser Türkei-Deal hat nie funktioniert und wird nie funktionieren".

© SZ vom 30.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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