Migrationspolitik:Wie dicht soll die deutsche Grenze sein?

Horst Seehofer und Angela Merkel im Deutschen Bundestag

Haben Gesprächsbedarf: Innenminister Seehofer und Kanzlerin Merkel

(Foto: AFP)
  • Nichts hat Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer in den vergangenen Jahren so entzweit wie die Flüchtlingspolitik.
  • Der Umgang mit Migranten an der deutschen Grenze war jahrelang der innenpolitische Streitgegenstand schlechthin, gerade auch in der Union.
  • Der Dissens über die Vergangenheit ist geblieben, für die Gegenwart hat man sich arrangiert. Doch hält das angesichts des neuen Migrationsdrucks an der Südgrenze Europas?

Von Nico Fried, Berlin

Die Kanzlerin und ihr Minister haben Gesprächsbedarf. Es ist Mittwoch, kurz nach 13 Uhr, im Bundestag. Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble arbeitet sich noch durch ein paar Formalia, gleich wird Gesundheitsminister Jens Spahn eine Regierungserklärung zum Coronavirus abgeben. Den Anfang seiner Rede werden Angela Merkel und Horst Seehofer verpassen, ihre intensive Unterhaltung dauert länger. Der Innenminister rückt für ein paar Minuten sogar auf den freien Stuhl des Vizekanzlers, direkt neben Merkel. So nah ist er der Kanzlerin sonst nicht.

Die Flüchtlingspolitik steht wieder im Fokus. Und mit ihr das Verhältnis von Merkel und Seehofer. Nichts hat die beiden in den vergangenen Jahren so entzweit wie dieses Thema. Seehofer nimmt für sich in Anspruch, Ordnung in die Migration nach Deutschland gebracht zu haben, ohne humanitäre Verpflichtungen zu vernachlässigen. Merkel verteidigt ihre Entscheidung, im September 2015 die Grenze für Flüchtlinge nicht zu schließen. Der Dissens über die Vergangenheit ist geblieben, für die Gegenwart hat man sich arrangiert. Doch hält das angesichts des neuen Migrationsdrucks an der Südgrenze Europas?

19 Stunden früher, Dienstagabend, Fraktionsebene im Reichstag. Dreimal hat sich Horst Seehofer schon verabschiedet, aber jetzt ist er immer noch da. Der Innenminister spricht vor Journalisten über die Flüchtlingspolitik, über die Zustände an der europäischen Außengrenze, über das Abkommen mit der Türkei, über mögliche Hilfe für Kinder in den Lagern auf den griechischen Inseln und die Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssten. Seehofer hat sich von seiner ursprünglichen Position wegbewegt, er wollte ja längst los, die Innenminister der Länder warten auf eine Telefonkonferenz. "Ich muss zurück an meinen Werkstock", sagt er, macht wieder ein paar Schritte, aber wenn ein Reporter noch was wissen will, bleibt der Minister eben noch mal stehen. Es ist für Seehofer ja auch ganz schön, so gefragt zu sein - stand doch noch vor wenigen Woche in Rede, der 70-jährige CSU-Politiker könne von seinem auf eine Kabinettsumbildung drängenden Parteivorsitzenden Markus Söder bald vorzeitig aufs Altenteil geschickt werden.

Dann aber kommt ein Thema, auf das der Minister nicht eingeht: Ob er die Schließung der deutschen Grenze für denkbar halte, wird Seehofer gefragt. Er weicht aus. Die europäische Außengrenze sei ja nicht geöffnet, sagt er. Soll heißen: Die Frage nach der deutschen Grenze stellt sich nicht. Etwas früher am Tag, in der Fraktionssitzung der Union, hat er sich auf dieses Gedankenspiel noch eingelassen. Wenn Griechen oder Bulgaren dem Druck nicht standhielten und die Außengrenze öffneten, müsse man die Binnengrenze schützen, wurde Seehofer von Teilnehmern zitiert. Die Frankfurter Allgemeine titelte am Mittwoch: "Seehofer für Zurückweisungen an der deutschen Grenze." Es wäre die ultimative Provokation gegen Merkel.

Der Umgang mit Migranten an der deutschen Grenze war jahrelang der innenpolitische Streitgegenstand schlechthin, gerade auch in der Union - und besonders zwischen Seehofer und Merkel. Nach dem September 2015, als Merkel die Grenze zu Österreich nicht schloss, tobte der Streit um die sogenannte Obergrenze mehr als zwei Jahre lang, bis CDU und CSU sich nach einer nur mit Ach und Krach gewonnenen Bundestagswahl 2017 auf einen Kompromiss verständigten: Seehofer erhielt eine flexible Obergrenze, Merkels Bedingung war, dass es keine Zurückweisungen an der Grenze gebe, nur geordnete Verfahren.

Nur wenige Monate später entzündete sich im Frühjahr 2018 an diesem Punkt der nächste Krach: In seinem Gesamtkonzept zur Migration sah der inzwischen zum Innenminister ernannte Seehofer in einem von mehr als 30 Punkten vor, sogenannte Sekundärmigranten an der Grenze zurückweisen zu lassen, also Asylsuchende, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Antrag gestellt haben. Merkel lehnte das ab, ihr Regierungssprecher Steffen Seibert erfand die griffige Formel, man handle an der Grenze "nicht unilateral, nicht unabgestimmt, nicht zu Lasten Dritter".

Sind er und die Kanzlerin zu 100 Prozent einig? "Ja", sagt der Innenminister

Es folgte ein Zerwürfnis, das CDU und CSU an den Rand des Abgrunds führte und die Fraktionsgemeinschaft im Bundestag fast sprengte. Von Seehofer wurde der Satz über Merkel kolportiert, er könne "mit dieser Frau" nicht mehr zusammenarbeiten, den er später bestritt. Merkel zog ihrem Innenminister eine rote Linie und drohte indirekt mit seiner Entlassung. Eine Nacht lang stand Seehofers Rücktritt als CSU-Chef und Innenminister im Raum, weil er sich nicht von einer Kanzlerin rausschmeißen lassen wollte, die er - nach seinem Verständnis - erst ins Amt gebracht habe. Selbst der Bundespräsident mahnte zur Mäßigung. Wolfgang Schäuble vermittelte damals einen Kompromiss.

Ein letztes Mal tauchte das Thema auf, als die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nach einer Tagung von CDU und CSU zur Migration im Frühjahr 2019 Grenzschließungen als "Ultima Ratio" bezeichnete. Merkel antwortete darauf, dass sich ihre Position nicht verändert habe. Das gilt bis heute, heißt es am Mittwoch aus ihrer Umgebung.

Am Dienstagabend, draußen vor den Kameras, ist der Minister schon gefragt worden, ob er und die Kanzlerin in der aktuellen Migrationspolitik denn zu 100 Prozent einig seien. "Ja", antwortete er da. Man stimme jeden Schritt miteinander ab. Er selbst habe in der Fraktion gesagt, er habe das für fast unmöglich gehalten, dass Merkel und er bei diesem Thema einmal so einträchtig Seit' an Seite liefen.

Doch der Firnis der Harmonie ist dünn. Denn die entscheidende Frage lautet: Was genau bedeutet Schutz der Binnengrenze? Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) hat am Dienstag gesagt, dass man gegebenenfalls "engmaschig kontrollieren" müsse und "wir auch zu Zurückweisungen kommen müssten". Mit dieser Haltung steht er in der Union nicht allein. Teilnehmer der Fraktionssitzung berichten indes übereinstimmend, Seehofer habe das Z-Wort nicht in den Mund genommen. Und auch der Minister selbst legt Wert auf diese Feststellung, als sich die Regierungsmitglieder der Union am Mittwoch zum Frühstück vor der Kabinettssitzung treffen. Aus dem Kanzleramt wird ebenfalls signalisiert: bislang kein Dissens.

Im Bundestag haben Merkel und Seehofer inzwischen der Debatte über das Coronavirus gut 50 Minuten lang zugehört, als sie wieder zu reden beginnen. Merkel hat offenbar eine Textnachricht auf ihr Handy bekommen. Damit Seehofer sie auch lesen kann, gibt Merkel ihr Smartphone sogar aus der Hand und reicht es dem Minister. Ein Vertrauensbeweis. Einstweilen.

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