Flüchtlinge:Kette der Unvernunft

Die Wiener Balkan-Allianz will das Problem nach Süden verschieben. Griechenland wird für seine geografische Lage in Europa bestraft.

Von Christiane Schlötzer

Wenn man in diesen Tagen von Glück sprechen kann, angesichts von Zehntausenden, die in Griechenland auf ihren letzten Bündeln festsitzen und nicht darauf hoffen können, dass sie jemand wie gestrandete Touristen abholt, dann besteht dieses Glück aus dem baldigen Zusammentreffen von zwei Ereignissen. Am Montag in einer Woche werden in Brüssel Angela Merkel und der türkische Regierungschef Ahmet Davutoğlu endlich darüber reden, was sie beide tun können, damit nicht noch mehr Geflüchtete über die Ägäis in ein europäisches Nirwana drängen. Am selben Tag, dem 7. März, sollen die syrischen Kriegsparteien in Genf damit beginnen, über einen Frieden zu verhandeln, wenn der Waffenstillstand bis dahin im Großen und Ganzen hält, was sicher das größere Glück wäre, angesichts von bis zu 300 000 Toten in fünf Bürgerkriegsjahren. Für die EU-Krisenpolitik heißt dies: Es gibt Wichtigeres als den Nabel von Wien und die Kirchtürme von Budapest.

Auch Merkel hat womöglich Glück, weil der 7. März ein Hoffnungszeichen setzen könnte, und dies gerade noch rechtzeitig vor den entscheidenden Landtagswahlen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Das erinnert an eine andere Landtagswahl: Im Mai 2010 wurde in Nordrhein-Westfalen gewählt, ein Datum, das in Athen unvergessen ist. Weil Merkel damals vor dieser Wahl partout verhindern wollte, dass man merkt, wie nah Griechenland dem Staatsbankrott schon war. Hilfen für Athen wurden hinausgezögert. Genützt hat es nichts, die CDU verlor Düsseldorf, und Griechenland geriet in den freien Fall. Die Lehre: Wegschauen macht alles nur schlimmer.

Rückblende II: April 2015. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" schickte Mediziner an die griechisch-mazedonische Grenze zur Versorgung von Flüchtlingen. Bald meldeten die Ärzte einen riesigen Rückstau an Flüchtlingen auf der griechischen Seite, weil Mazedonien die Leute nicht weiterreisen ließ. Der Hilferuf ist damals im dornigen Gestrüpp um die griechische Grenzstadt Idomeni verhallt. Europa hat lieber weggeschaut. Was danach kam, ist bekannt.

Nun versucht eine Mehrheit der EU-Regierungen, diesen Fehler zu wiederholen. Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nennt diesen Fauxpas eine "Kettenreaktion der Vernunft". Pech nur, dass am Ende der Kette geschlossener Grenzzäune quer über den Westbalkan das krisengeschüttelte Griechenland liegt. Dort sind die Geflüchteten nun wieder gefangen wie in einem Sack, dessen oberes Ende zusammengebunden ist, am Grenz-Nadelöhr von Idomeni.

Das Motto der Balkan-Allianz: Den Letzten beißen die Hunde

Griechenland wird abgestraft für seine geografische Lage, nach dem Motto, den Letzten beißen eben die Hunde. Gerechtfertigt wird dies mit vollmundiger Kritik an der Regierung in Athen, weil Griechenland es nicht fertigbringt, die EU-Außengrenzen ausreichend zu schützen. Nun soll deshalb die Nato in der Ägäis patrouillieren, mit der Folge: Das Mantra vom mangelnden Schutz der Meeresgrenzen wird bald verstummen, weil auch Nato-Schiffe jeden Menschen in Seenot retten müssen. So verlangt es das geltende Recht. Wer also verhindern will, dass Menschen ihr Leben auf der Ägäis-Passage riskieren, der muss sie aufhalten, bevor sie ins Boot steigen - in der Türkei.

Dort müssen dringend die Hotspots entstehen, also europäische Verteilzentren für die Bedürftigsten und Schwächsten, besonders für Frauen und Kinder. Geschieht das nicht, wird ganz Griechenland zum Hotspot. Das ist hochgefährlich, weil es dem Land, das sich gerade erst wieder hochrappelt, gewaltige Lasten aufbürdet. Schon buchen weniger Touristen einen Ägäisurlaub, Kreuzfahrtschiffe suchen sich neue Routen. Die Hilfsbereitschaft der Griechen für die Geflüchteten ist hoch, die Zahl der Engagierten erstaunlich, aber die Überforderung ist unübersehbar. Und was in Griechenland geschieht, sorgt schon jenseits der Adria, in Italien, für Unruhe. Dort weiß man, führt kein Weg mehr über den Balkan, dann steuern die Verzweifelten und die Glückssucher wieder sizilianische Küsten an.

Österreichs Innenministerin sieht Europa vor der "größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg". Das ist weit übertrieben. Mauerbau, deutsche Einheit, Balkankriege - Europa hat in den vergangenen 70 Jahren hochdramatische Zeiten durchlebt. Kleinkrämerei und Kleinstaaterei haben in keinem Fall weitergeholfen. Ja, die aktuelle Krise könnte zu einer Überlebensfrage für Europa werden, wie die Regierung in Wien warnt. Aber welches Europa will sie schützen? Ein Europa ohne seinen Süden, oder mit einem mediterranen Flüchtlingsabladeplatz? Das ist ein EU-Modell mit echter Sprengkraft. Glück verheißt es nicht.

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