Flüchtlinge in Ungarn:Zug ins Nirgendwo

Flüchtlinge in Ungarn, Zug in Bicske gestoppt

Polizisten haben in Bicske einen Zug mit Flüchtlingen gestoppt - doch diese wollen auf keinen Fall in ein Flüchtlingslager in dem ungarischen Kaff.

(Foto: Getty Images)
  • Nachdem am Morgen der Ostbahnhof in Budapest wieder geöffnet wurde, haben Hunderte Flüchtlinge einen Zug in Richtung Sopron, eine Stadt an der Grenze zu Österreich, bestiegen.
  • Nach etwa 40 Kilometern hat die Polizei den Zug in Bicske gestoppt, um die Passagiere in ein Flüchtlingslager im Ort zu bringen. Diese weigern sich, sie wollen weiter reisen.
  • Die Lage ist unübersichtlich. Beobachter vermuten, Ungarns Regierung wolle mit der Aktion Deutschland und die EU unter Druck setzen - auf Kosten der Flüchtlinge.

Von Cathrin Kahlweit, Bicske

Der Zug auf Gleis 3 steht und steht und steht. Seit Stunden geht das so im Bahnhof von Bicske, und die Verzweiflung der Menschen wächst. Nach Sopron, zur ungarischen Grenze fahre der Zug, nur nach Sopron, hatte es in Budapest am Morgen geheißen, als, völlig überraschend, die Polizisten vom Bahnhof Keleti in der ungarischen Hauptstadt abgerückt waren. Sie hatten alle Zugänge seit anderthalb Tagen blockiert. Es geht wieder los, der Bahnhof ist offen - nur diese Nachricht hatte sich unter den Flüchtlingen rasend schnell verbreitet, ein paar Hundert stürmten sofort die Gleise.

Dass es gar nicht weitergehen sollte nach München, dass vielmehr die internationalen Verbindungen gekappt worden waren und dass vielleicht mit ihnen ein politisches Spiel getrieben werden sollte im fernen Brüssel - wer von den Flüchtlingen kann das schon ahnen in diesem Moment?

Ohnehin hatten diejenigen, die es auf den ersten Zug am Donnerstag schafften, nicht so genau hingehört: Für sie hieß Sopron Westen, und das hieß Österreich und dann Deutschland. Also die richtige Richtung. Aber die Freude währte nur kurz. Am Mittag schon, nur eine halbe Stunde nach seiner Abfahrt, wird der Regionalzug in einem Kaff gestoppt, ein paar Dutzend Kilometer außerhalb von Budapest. Und keiner weiß, wie es weitergeht.

Soll nun Bicske die Endstation sein?

Es ist um diese Zeit schwül und heiß in Bicske, aber die Flüchtlinge verlassen die Wagen nicht, aus Angst nicht weiterfahren zu können. Am Bahnsteig haben sich Dutzende Polizisten postiert, vor jeder Wagentür ein paar, Arme verschränkt, Sonnenbrillen im Gesicht. Keine Auskunft, keine Regung.

Bahnbeamte haben ein paar Flaschen Wasser herangekarrt, aber in den Wagen sitzen 400 Menschen, unter ihnen Babys und Kleinkinder. Weil niemand weiß, wie es weitergeht, kippt die Stimmung stündlich mehr von Hoffnung zu Verzweiflung. Und Empörung. An den Wagenfenstern kleben Zettel, überall: "Wenn uns keiner hilft, werden wir uns selbst töten." "Tod oder Deutschland." "Lasst uns raus." "Ungarn ist ein böses Land - aber nur die Regierung."

Hassinbullah aus Afghanistan steht in einer offenen Wagentür, er hatte drei Tage auf dem Vorplatz des Bahnhofs in Keleti gelagert, dann war er am Donnerstagmorgen auf den Zug gesprungen. Soll nun Bicske die Endstation sein? Hat die ungarische Regierung die Leute unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erst in den Zug gelockt, um sie dann 40 Kilometer weiter mit Gewalt wieder herauszuholen?

Keiner weiß es. Hier in der Kleinstadt befindet sich zwar eines der Auffanglager, welche die Regierung für Flüchtlinge eingerichtet hatte, es gibt ein paar im Land, in Debrecen, in Györ, und eben in Bicske. Aber niemand will dort hin, und niemand will dort bleiben. Denn die Lager würden für die Menschen ein Verfahren in Ungarn bedeuten, und das wollen alle vermeiden. Sie wollen ja alle weiter.

"Deutschland, Deutschland", brüllen die Menschen

Nachdem der Zug nach Sopron kurz nach seiner Abfahrt gestoppt worden war, hatte die Polizei einen ersten Wagen geräumt. Aber als klar war, dass hier noch nicht die Grenze ist, hatte es einen Aufruhr gegeben. "Deutschland, Deutschland", riefen die, die ausgestiegen waren und sich weigerten, ins Lager gebracht zu werden. "Deutschland, Deutschland", brüllten die, die noch in den Wagen saßen und nicht aussteigen wollten. Nicht hier, jedenfalls!

In Budapest ist die Stimmung unterdessen fast so aufgeheizt wie in Bicske. Die regulären Züge an die westliche Landesgrenze, Richtung Hegyeshalom und Sopron, fahren mit großer Verspätung ab, aber kaum jemand sitzt drinnen. Mindestens so schnell wie die Nachricht von der Öffnung von Keleti und die kurze Hoffnung, dass Ungarn die Flüchtlinge erneut durchwinken würde, hatte sich am Mittag die Kunde verbreitet, dass der erste Zug vom Morgen nie über die Grenze gefahren ist. "Lügen, Lügen", brüllen die Flüchtlinge in Budapest.

Auch ein zweiter Zug, der vom Budapester Ostbahnhof in Richtung Sopron abfahren sollte, war zunächst offenbar voller Flüchtlinge gewesen, berichtet das online Nachrichtenportal index.hu. Etliche Menschen seien aber wieder abgesprungen, bevor der Zug losgefahren war, weil durchgesickert sei, dass sie auch mit diesem Zug nach Bicske gebracht werden sollten.

Überhaupt überschlagen sich die Gerüchte - in Budapest und in Bicske. Einige Hundert planten einen Fußmarsch nach Westen, heißt es dort, derzeit werde rund um den Bahnhof dafür geworben, eine Art Treck nach Deutschland zu starten. Ein Hungerstreik soll angekündigt worden sein.

Am Abend geben immer mehr Menschen auf, es sind vorwiegend Frauen und Kinder, etwa hundert steigen doch in die bereitstehenden Busse und lassen sich ins Lager bringen.

Druck auf Deutschland und die EU

Die ungarische Regierung habe diese Menschen als Geiseln genommen, sagt ein Helfer am Bahnhofseingang, der mit seinen Wasserflaschen nicht zu den Flüchtlingen im Zug auf Bahnsteig 3 vorgelassen wird. Damit wolle sie offenbar die EU und Deutschland unter Druck setzen.

Tatsächlich werden die Nachrichten aus Ungarn in Brüssel und Berlin höchst irritiert zur Kenntnis genommen. "Die Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge am Bahnhof in Budapest eingepfercht ohne Versorgung mit dem Notwendigsten dahinvegetieren, sind beschämend", sagt der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, Herbert Reul. Der Unionsfraktionschef im Bundestag, Volker Kauder, mahnt die Ungarn, sich an europäisches Vereinbarungen zu halten. Womit er indes meint, dass Ungarn die verzweifelten Menschen nicht nach Deutschland durchwinken dürfe.

In Bicske wird die Lage zusehends untragbar; in Budapest ist sie es schon lange. Dort haben die Behörden nichts unternommen, was die Situation erleichtern könnte. Ein paar Toiletten für ein paar Tausend Menschen, ein paar Wasserleitungen. Keine Nahrung. Von großen Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz ist Ungarns Hauptstadt nichts zu sehen. Zwar hat die Budapester Stadtregierung angekündigt, für 1,2 Millionen Euro ein Zwischenlager nahe dem Bahnhof einzurichten für die Gestrandeten. Aber das soll maximal 1000 Leute fassen und erst in ein, zwei Wochen fertig sein. Und: Wer will dorthin, wenn doch in Keleti die Hoffnung wartet?

Derweil steht in Bicske ein Zug nach Nirgendwo, ein Zug, so sieht es fast aus, voller Geiseln.

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