Flüchtlinge in Ungarn:Ein Land schottet sich ab

170428 ROSZKE April 28 2017 A Hungarian police closes the gate to the road between the dou

Ein ungarischer Polizist schließt am Grenzübergang Röszke ein Tor (Archivbild vom April 2017).

(Foto: imago/Xinhua)

Pro Werktag dürfen in Ungarn genau zwei Personen Asyl beantragen. Viktor Orbán ist selbst dies zu viel: Ein neues Gesetz bedroht Anwälte und Aktivisten mit bis zu einem Jahr Gefängnis, wenn sie Flüchtlingen helfen.

Reportage von Matthias Kolb, Röszke

Montag bis Freitag spielt sich morgens um neun Uhr eine seltsame Szene am Grenzübergang Röszke ab. Von Serbien aus geht eine Person auf den Stacheldraht zu. Ein Tor öffnet sich, Papiere werden kontrolliert, das Tor schließt sich. Danach ist es vorbei mit der Menschlichkeit im Ungarn von Viktor Orbán. Seit Februar darf pro Werktag in jeder der beiden Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze jeweils ein - von den Behörden ausgewählter - Flüchtling Asyl beantragen. Insgesamt also zwei am Tag. Früher waren es Hunderte.

175 Kilometer ist der elektrifizierte Grenzzaun lang, den Orbán im Sommer 2015 errichten ließ. Drei Jahre später trifft man in Südungarn keine Flüchtlinge, sondern Lokalpolitiker, die den Ministerpräsidenten kritisieren und zugleich wissen, wie gut es beim Wähler ankommt, wenn dieser Migranten permanent als "Gesundheits- und Terrorrisiko" bezeichnet.

"Warum sollte er aufhören, wenn er damit so viel Erfolg hat? Es ist wie in der Wirtschaft: Wer ein populäres Produkt anbietet, ändert es auch nicht, sondern freut sich über die Profite", sagt der Budapester Analyst Peter Krekó. Sein Heimatland sei für Orbán mittlerweile zu klein: Er wirbt in der EU ebenso wie auf dem Westbalkan für seinen Kurs der totalen Abschreckung und will dafür Aktivisten und Anwälte kriminalisieren, die in Ungarn Flüchtlingen helfen.

Für Journalisten, nicht nur für jene aus dem Ausland, ist die Transitzone tabu, es bleiben nur Gespräche mit Anwälten wie Tímea Kovács. Ihre Kontaktdaten kursieren unter den Flüchtlingen: "Ich erhalte oft per E-Mail einen formlosen Brief mit der Bitte um Rechtsbeistand. Das reicht als Zugangserlaubnis."

Auch sie kann sich nicht frei in der Transitzone bewegen, kennt die Lage aber nach Hunderten Gesprächen genau. "Das Lager ist eingezäunt, alle 50 Meter sowie in jeder Ecke steht ein Grenzschützer", sagt Kovács. Familien erhalten einen eigenen Container, mit Betten, Tisch und Stühlen. Es gibt gemeinsame Waschräume, nach Geschlechtern getrennt. Klagen über mangelnde Sauberkeit höre sie selten, manchen sei das Essen nicht scharf genug, so Kovács.

Asylbewerber erhalten keine Sprachkurse und sind zum Warten verdammt

WLAN gibt es im Lager, Kovács nutzt Messenger-Dienste wie Viber zur Kommunikation mit ihren Klienten. Am schlimmsten sei aber die "unmenschliche" Langeweile, so die Anwältin. Freizeitangebote gibt es vereinzelt für die Kinder, alle anderen sind zum Warten verdammt. Die Botschaft sei klar: In Ungarn seid ihr nicht willkommen. "Es gibt keine Sprachkurse, keine Angebote zur Landeskunde oder zur Integration", sagt Kovács.

Allein der Abgleich der Fingerabdrücke mit den Datenbanken dauere sechs bis acht Wochen; im Durchschnitt verbringen die Asylbewerber drei bis vier Monate hinter Stacheldraht, schätzt Kovács. Ein Iraker sitzt sogar seit zehn Monaten in Röszke. Und selbst wer Asyl erhält, bekommt anschließend keine Hilfe, um Wohnung oder Arbeit zu finden. 30 Tage lang gibt es ein Bett und drei Mahlzeiten in einer Einrichtung nahe der Grenze zur Slowakei, danach ist jeder auf sich allein gestellt.

Tímea Kovác, deren Sohn in Irland lebt, liegt das Schicksal von Migranten am Herzen. Aufgeben sei keine Option, sagt sie kämpferisch: "Viele sind seit Jahren unterwegs und haben schreckliche Dinge erlebt. Für sie ist es schon aus psychologischen Gründen wichtig zu wissen, dass jemand Interesse an ihnen zeigt."

Wie UNHCR-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi, der 2017 die Transitzone nach einem Besuch als "Haftlager" bezeichnet hat, sorgt sie sich um die Kinder. Minderjährige würden alleine gelassen und auch wer mit den Eltern dort sei, mache traumatische Erfahrungen: "Wenn Vater oder Mutter zum Gespräch mit dem zuständigen Beamten gebeten werden, werden sie von zwei bewaffnete Wachen begleitet. Solch verstörende Bilder brennen sich ins Gehirn ein."

Anwälten, die Asylbewerber unterstützen, droht bald bis zu ein Jahr Haft

Das Verhalten der Beamten in Röszke beschreibt sie als "professionell". Ihre Rolle wurde nie angezweifelt - bisher. Das Parlament, wo Orbáns Partei eine Zweidrittelmehrheit hat, berät gerade ein Gesetz, wonach Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen mit Haftstrafen zwischen fünf Tagen und einem Jahr bestraft werden können, wenn sie Flüchtlingen helfen. Dies gelte nicht nur für Aktivisten, die Flugblätter oder Essen verteilen, sondern eben auch für Juristen.

Ein Gesetz soll jedem, der in dieser Richtung tätig geworden ist, verbieten der Landesgrenze näher als acht Kilometer zu kommen. "Erstmals seit den Fünfziger Jahren könnten in Ungarn Anwälte dafür kriminalisiert werden, dass sie ihre Arbeit tun", klagt Márta Pardavi vom ungarischen Helsinki-Komitee (HHC), das die Arbeit von Kovács anderen Anwälten finanziert. Laut Pardavi will Fidesz die Zivilgesellschaft einschüchtern und zudem die Zahl möglicher Asylanträge im eigenen Land drücken.

Für die Regierung in Budapest gilt Serbien als sicherer Drittstaat. Afghanen und Pakistaner, die jenseits der Grenze in einem zerfallenen Landgut hausen, erzählen stets die gleiche Geschichte. "Ich wurde mehr als 20 Mal von den Ungarn mit dem Satz 'Your country is Serbia' zurückgeschickt", sagt Kamran, 18, aus dem afghanischen Dschalalabad. Hunderte hätten sich daher auf den Weg nach Bosnien-Herzegowina gemacht. Dort wurden seit Januar 5500 Flüchtlinge erfasst, weshalb die Regierung kürzlich die Innenminister der Region sowie aus Österreich und Griechenland nach Sarajevo einlud, wo ein "gemeinsames Vorgehen" vereinbart wurde.

Menschenrechtler werden als Staatsfeinde dargestellt

Menschenrechts-Experten wie Márta Pardavi beurteilen die Situation in Ungarn immer düsterer. Sie hat miterlebt, wie sich das Klima verändert hat und Nichtregierungsorganisationen dämonisiert werden. "Wir helfen Flüchtlingen und Asylsuchenden seit 1989 und das hat jahrelang niemand interessiert. Doch plötzlich gelten alle unabhängigen Akteure als Staatsfeinde", sagt Pardavi am Rande einer Protest-Veranstaltung in Budapest.

Weil das HHC Geld von der Open Society Foundation des ungarischstämmigen Milliardärs George Soros erhält, werden die Mitarbeiter von den Orbán-nahen Medien angefeindet (die Soros-Stiftung wird wegen der Schmutzkampagne von Budapest nach Berlin umziehen). Auch Pardavi steht auf jener Liste der "200 Soros-Söldner", die die regierungsnahe Wochenzeitung Figyelö veröffentlicht hat.

Die 43-Jährige lacht kurz auf, wenn sie darauf angesprochen wird. "Wir haben Witze darüber gemacht, wie es sich anfühlt, auf dieser 'Liste der coolen Kids' zu stehen. Es gibt sogar eine eigene Facebook-Gruppe, aber meine Kollegen und ich werden uns nicht abschrecken lassen." Allerdings seien viele Älteren besorgt, dass im Jahr 2018 wieder Listen publiziert würden: "Die hat es ja früher schon gegeben, mit Juden, Dissidenten oder jenen Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzen."

Die geplanten Anti-NGO-Gesetze werden oft als "Stop Soros"-Paket bezeichnet, doch Márta Pardavi spricht lieber von der "Operation Verhungern und Erwürgen": Die Nichtregierungsorganisationen sollen vertrieben oder zum Aufgeben gezwungen werden. "Laut Umfragen misstrauen Bürger Parteien, Medien und dem Parlament", sagt sie. Bisher sei in Ungarn das Vertrauen in zivilgesellschaftliche Organisationen noch recht hoch - und diese unabhängigen Stimmen möchte Orbán diskreditieren.

Druck von Europas Konservativen auf Fidesz? Fehlanzeige

Dass der Ministerpräsident von den anderen Parteien kaum etwas zu befürchten hat, bestätigt Politik-Experte Péter Krekó: "Die ungarische Opposition liegt am Boden." Sie sei chronisch zerstritten und ihr fehle auch ein Anführer, der die Kräfte vereinen und Orbán herausfordern könnte. Deswegen, so betont es Krekó im SZ-Gespräch, wäre es so wichtig, dass die Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP) und vor allem CDU/CSU der Fidesz-Partei Grenzen setzen würden.

Doch in dieser Richtung tut sich erschreckend wenig. Nur die niederländische CDA fordert öffentlich, Fidesz den Rauswurf aus der EVP anzudrohen, da in Ungarn die Rechtsstaatlichkeit durch Verfassungsänderungen bedroht sowie die Unabhängigkeit von Justiz und Medien gefährdet sei. Weil es keinen Druck aus dem Ausland gibt, gilt es als sehr wahrscheinlich, dass das umstrittene Gesetz zur Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern am Mittwoch vom Parlament beschlossen wird.

Krekó betont noch etwas: Die Opposition hat dem gängigen Narrativ von Fidesz nichts entgegenzusetzen. Neben den öffentlich-rechtlichen Sendern dominieren Medien, die von Orbán-freundlichen Oligarchen kontrolliert werden: So gelingt es etwa, dass in der Debatte stets das Wort "Migranten" verwendet wird - und eben nicht der Begriff "Flüchtlinge", die sich auf internationales Recht berufen können und Hilfe und Solidarität verdient hätten. Zuletzt ließ sich ein Fidesz-Funktionär dabei ablichten, wie er am Budapester Büro von Amnesty International einen "Pro Migration"-Sticker anbrachte, was die Menschenrechtler zusätzlich diffamieren soll.

Im südungarischen Kübekhaza, wo der Grenzzaun beginnt, denkt Bürgermeister Robert Molnár gar nicht ans Aufgeben. Der Ort wurde von Banater Schwaben gegründet, bis heute wird das deutsche Erbe stolz präsentiert. Molnár betont, dass Flüchtlinge nichts Neues seien für die Region: "Hier kamen viele Rumänen an, die vor dem Ceausescu-Regime flohen. In den Neunzigern folgte der Jugoslawienkrieg." Stets sei die Solidarität groß gewesen.

Flüchtlinge in Ungarn: Robert Molnár ist Bürgermeister des südungarischen Ortes Kübekhaza. Dort, im Drei-Länder-Eck Ungarn-Serbien-Rumänien, beginnt der Grenzzaun.

Robert Molnár ist Bürgermeister des südungarischen Ortes Kübekhaza. Dort, im Drei-Länder-Eck Ungarn-Serbien-Rumänien, beginnt der Grenzzaun.

(Foto: Matthias Kolb)

Molnár fand erst als Erwachsener zum Christentum und ist angewidert davon, dass die Kirchen Orbán nicht widersprechen, wenn dieser Zuwanderer dämonisiere. Solch klarer Widerspruch bleibt nicht ohne Folgen. Fördergelder aus Budapest erhält Kübekhaza nicht mehr, ganz im Gegensatz zum Nachbarort, wo ein Fidesz-Mann regiert. Einnahmen aus dem Tourismus sowie EU-Subventionen kompensieren jedoch die Ausfälle.

Dass Orbáns Partei im April ungeachtet der eigenen Popularität auch in Kübekhaza gewonnen hat, hat Molnár zwar enttäuscht, aber nicht verwundert: "Die Propaganda in Radio und Fernsehen macht keine Pause und so haben fast alle die Slogans wie 'Fidesz beschützt das Volk vor den Massen der Einwanderer' verinnerlicht. Und wer möchte denn nicht beschützt werden?"

"Das eigentliche Problem sind die vielen jungen Leute, die frustriert abwandern"

Der grauhaarige Jurist sieht den Grenzzaun vor allem als Kommunikationsstrategie der Fidesz-Partei, um von Ungarns eigentlichen Herausforderungen abzulenken. "Unser Problem sind doch nicht die wenigen Zuwanderer, die ohnehin nicht bei uns bleiben wollen, sondern von Deutschland oder Schweden träumen. Das eigentliche Problem sind die vielen jungen Leute, die frustriert abwandern", ruft Molnár.

2016 sei jedes sechste ungarische Baby im Ausland geboren worden. Trotz des soliden Wirtschaftswachstums lebe ein Drittel der Bevölkerung weiter unter der Armutsgrenze. Schulen und Krankenhäuser seien schlecht ausgestattet und gerade in der Grenzregion ist Alkoholmissbrauch weit verbreitet. Zudem gehört die Suizidrate zu den höchsten Europas.

Doch über solch unangenehme Dinge zu sprechen, so Molnár, gelte in Ungarn als "unhöflich". Den Bürgermeister wird das nicht abhalten, den Kurs von Viktor Orbán weiter zu kritisieren. Er ist sicher: "Irgendwann werden die Ungarn erkennen, dass sie belogen wurden." Dann werde es möglich sein, die eigentlichen Probleme der Gesellschaft zu lösen.

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