Flüchtlinge in Europa:Warum Hilfsorganisationen die griechischen Flüchtlingslager verlassen

Refugees and migrants at the port of Piraeus, near Athens, Greece

Nur noch wenige Flüchtlinge kommen am Hafen von Piräus an.

(Foto: dpa)
  • Auf den griechischen Inseln kommen nur noch sehr wenige Flüchtlinge an, offenbar hat die neue EU-Flüchtlingspolitik den Schleppern das Geschäft verdorben.
  • Große Nichtregierungsorganisationen kritisieren den Pakt mit der Türkei und treten den Rückzug an.
  • Alle fragen sich, ob die direkten Umsiedlungen aus der Türkei gelingen.

Von Christiane Schlötzer

Der Sturm in der Ägäis hat sich gelegt, über Lesbos wölbt sich der Himmel in makellosem Blau, und auch über dem Festland können die Wolkenfetzen den Frühling nicht mehr vertreiben. Bestes Überfahrtwetter. Und doch kommen am Montagmorgen in Piräus gerade mal 17 Flüchtlinge mit einer Fähre von den Inseln Chios und Lesbos an, wie Radio Athina 984 meldet. Das griechische Flüchtlingskrisenzentrum hat in der Nacht zum Montag auf allen Inseln noch 232 Neuankömmlinge gezählt. Das sind zwar mehr als an den beiden Tagen zuvor. Da waren es nur 73 und 78. Ein kurzer Blick zurück aber zeigt: Hier ist etwas passiert. Im Februar erreichten täglich im Durchschnitt 2100 Flüchtlinge in Plastikbooten aus der Türkei eine der küstennahen griechischen Inseln.

Was hat den Umschwung bewirkt? Das seit dem 20. März geltende Abkommen der EU mit der Türkei? Die geschlossene Balkanroute, oder beides? Wie es aussieht, hat die neue EU-Flüchtlingspolitik den Schleppern in der Ägäis tatsächlich das Geschäft verdorben. Wer zahlt auch Hunderte von Dollars für die Passage, wenn ihm auf Lesbos zuerst die Internierung droht, und dann nach kurzem Asylverfahren die Abschiebung zurück in die Türkei? Die meisten Flüchtlinge sind zu gut informiert, um sich unter diesen Umständen noch auf die lebensgefährliche Überfahrt einzulassen. Facebook-Seiten in Arabisch, Englisch und Farsi, bestückt von NGOs, kritisieren das Abkommen meist heftig - und informieren so auch über die aktuelle Lage.

Weil sie ihre Arbeit nicht in "Haftzentren" fortsetzen wollen haben in der vergangenen Woche, unmittelbar nach dem Türkei-Deal, große Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen mit dem Abzug aus den Flüchtlingshotspots auf Lesbos und Chios begonnen. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat den Pakt mit der Türkei kritisiert und den Rückzug angetreten. "Viele Menschen hier sind jetzt verwirrt, sie wissen nicht, wie es weitergeht", sagt Kostas Gianacacos am Montag am Telefon aus Lesbos. Gianacacos ist erst vor ein paar Tagen mit 20 Freunden, Griechen und Deutschen aus München, auf der Insel eingetroffen. "Wir haben Spenden gesammelt, wir machen das aus freien Stücken", sagt der ehemalige SPD-Stadtrat und Leiter des Evangelischen Migrationszentrums in München.

"Ich habe einen Algerier getroffen, er ist total verwirrt, wurde gefoltert"

Moria, das bekannteste Lager auf Lesbos, kennt er gut. "Da konnte man vorher ein- und ausgehen." Nun sei es eine "Festung", für die wenigen Neuankömmlinge. Aber noch immer sind viele Flüchtlinge auf Lesbos, darunter auch Kranke. "Ich habe einen Algerier getroffen, er ist total verwirrt, wurde gefoltert, hat keine Zähne mehr", erzählt Gianacacos. Algerien gehört zu den Ländern, die von der EU künftig zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden könnten. Viele Helfer seien "verbittert", sagt der Grieche, "sie fragen sich, was hat die EU hier für die Flüchtlinge getan". Ohne die vielen NGOs wäre deren Versorgung längst zusammengebrochen.

Im dem Türkei-Abkommen gibt es einen Passus, der Athen Hoffnung macht: Jeden Monat sollen 6000 Flüchtlinge, die sich schon vor dem 20. März in Griechenland befanden - derzeit 50 150 -, in ein anderes EU-Land umgesiedelt werden. Würde dies geschehen, wären die griechischen Camps bald leer. Dass es gelingt, daran aber kann man zweifeln, beim Blick auf eine Liste der EU-Kommission zum Stand der Umsiedlungen: Danach sind bis zum 22. März nur 546 Flüchtlinge aus Griechenland andernorts aufgenommen worden.

"Die EU muss dringend mit den Umsiedlungen aus der Türkei beginnen"

Flüchtlinge in Europa: SZ-Karte; Quelle: UNHCR, 26.03.2016

SZ-Karte; Quelle: UNHCR, 26.03.2016

"Die EU muss das Abkommen jetzt umsetzen, sie kann sich nicht darauf verlassen, dass kein Flüchtling mehr kommt", sagt Gerald Knaus, Leiter des Forschungsinstituts ESI, das früh die Idee einer Vereinbarung mit der Türkei propagierte. "Die EU muss jetzt auch dringend mit den direkten Umsiedlungen aus der Türkei beginnen", sagt Knaus, damit stehe und falle die Glaubwürdigkeit Europas. In Griechenland, so fordert Knaus, sollte die EU eine "europäische Asylbehörde" aufbauen, "vorbildhaft für ganz Europa". Nur ein paar Hundert EU-Beamte zu schicken, "die den Griechen über die Schulter schauen", bringe nichts. "Da ist nicht klar, wer was entscheiden darf."

Bislang halten sich also vor allem die Flüchtlinge an den EU-Deal, indem sie in der Türkei bleiben. Die Regierung in Athen will dagegen offenbar von der Idee abrücken, die Türkei zum "sicheren Drittstaat" zu erklären. Darauf hatte die EU-Kommission größten Wert gelegt. Olga Gerovassili, Sprecherin von Premier Alexis Tsipras, meinte jetzt, ein solches Gesetz sei nicht nötig. Asylanträge würden ohnehin individuell, nicht kollektiv geprüft.

In Idomeni harren noch immer 12 000 Menschen aus

Das Verhältnis Athen-Ankara ist historisch heikel, und so bleibt es wohl. Am vergangenen Freitag war Nationalfeiertag, in Erinnerung an den Beginn des Aufstands gegen die Osmanen am 25. März 1821. Da gibt es stets Paraden, angeführt von Schülern mit den besten Noten. Diesmal war die Aufregung groß, weil in Athen ein Mädchen mit Kopftuch vorneweg laufen durfte, eine in Griechenland geborene Ägypterin. "Kommt morgen die Burka?", fragte die Politik-Webseite protagon.gr. Früher regten sich Nationalisten auf, wenn junge Albaner die Paraden anführten, andere sahen darin gelungene Integration.

Proteste gegen Flüchtlinge sind in Griechenland noch eher selten, die Hilfsbereitschaft ist nach wie vor groß, aber die Spannungen nehmen zu. Im nordgriechischen Veria warfen am Samstag Demonstranten Schweineköpfe vor ein von der Armee errichtetes Camp. Sie versuchten auch sechs Busse mit Flüchtlingen aufzuhalten, ließen sie aber nach 15 Minuten passieren. Die Busse brachten Menschen aus dem wilden Grenzcamp von Idomeni.

Dort harren noch immer 12 000 Menschen aus. Aktivisten versuchten sie am Wochenende erneut zum gewaltsamen Grenzübertritt nach Mazedonien zu motivieren, scheiterten damit aber an der Polizei - und an einigen Syrern, die sich der Aktion nicht anschließen wollten.

Vizeaußenminister Dimitris Mardas will Flüchtlinge zum Bleiben in Griechenland bewegen, mit dieser Idee: Wer 250 000 Euro mitbringt und in den Krisenstaat investiert, bekomme, so Mardas, rasch eine Aufenthaltsgenehmigung.

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