Flüchtlinge in Europa:So wurde Budapest-Wien-München zur Hauptroute für Flüchtlinge

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Flüchtlinge aus Budapest werden im Hauptbahnhof München von Polizisten in Empfang genommen (Foto: AP)

Tausende Flüchtlinge aus Ungarn erreichen Bayern. Wieso gerade von dort, wieso jetzt? Und wie geht es für die Menschen weiter?

Von Ruth Eisenreich und Markus C. Schulte von Drach

Etwa 2000 Flüchtlinge sind seit Montag in München aus Zügen aus Budapest gestiegen. Hunderte weitere hat die Polizei schon in Rosenheim aus dem Zug geholt. Die meisten kommen aus Syrien, manche auch aus dem Irak, aus Afghanistan oder Eritrea. Aber warum hat sich gerade die Bahnstrecke Budapest-Wien-München zu einer neuen Hauptroute für Flüchtlinge entwickelt, was bedeutet das alles rechtlich - und wie geht es nun weiter? Sieben Fragen und Antworten.

Warum steigen gerade jetzt so viele Flüchtlinge in Budapest in den Zug?

Weil die ungarische Polizei sie lässt. Tagelang waren bis zu 2000 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, am Budapester Ostbahnhof festgesessen - offenbar, weil ihnen das ungarische Einwanderungsamt keine Unterkunft mehr zugewiesen hatte. Am Montagmorgen zog sich die Polizei dann überraschend zurück, vor den Fahrkartenschaltern bildeten sich daraufhin schnell lange Schlangen.

Zuvor hatte Deutschland angekündigt, Asylbewerber aus Syrien nicht mehr in andere EU-Länder zurückzuschicken, die laut dem Dublin-Abkommen (siehe unten) für sie zuständig wären. Möglicherweise war das mit ein Grund dafür, dass Ungarn die Flüchtlinge plötzlich ausreisen ließ.

Am Montagmorgen kursierte auch das Gerücht, Deutschland werde Flüchtlinge in Charterzügen aus Ungarn abholen; Regierungssprecher Steffen Seibert dementierte.

Warum wollen die Flüchtlinge nicht in Ungarn bleiben?

Die Bedingungen dort sind für sie untragbar. Die nationalkonservative Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán tut alles, um möglichst wenige Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Der Stacheldrahtzaun, den Ungarn in den vergangenen Wochen entlang der Grenze zu Serbien aufbauen ließ, ist nur ein Beispiel dafür. Die Regierung und Teile der Bevölkerung sind fremdenfeindlich eingestellt. Erst kürzlich hat der Europarat sich besorgt über rassistisch motivierte Überfälle und Hasstiraden gegen Asylbewerber geäußert. Allerdings kam es auch in Deutschland in den vergangenen Wochen verstärkt zu Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte.

In dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land gibt es derzeit nur wenige Tausend Aufnahmeplätze für Zehntausende Menschen. Das Innenministerium erklärte, es seien seit Jahresbeginn 156 000 Flüchtlinge eingereist. Das 80-Millionen-Einwohner-Land Deutschland rechnet mit etwa 800 000 Flüchtlingen für das gesamte Jahr 2015.

Dem Europarat zufolge ist fast jeder vierte Asylbewerber in einer gefängnisähnlichen Einrichtung untergebracht und damit unrechtmäßig seiner Freiheit beraubt. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat kritisierte zudem, dass Asylbewerber in Ungarn von ihren Bewachern häufig brutal behandelt würden.

Aber müsste Ungarn die Flüchtlinge nicht aufnehmen?

Eigentlich schon. Das Dublin-Abkommen schreibt vor, dass jeweils das erste EU-Land, das ein Asylbewerber betreten hat, ihn registrieren, seine Fingerabdrücke abnehmen und sein Asylverfahren abwickeln muss. Reist ein Asylbewerber in ein anderes EU-Land weiter, muss er von dort zurückgeschickt werden. Länder wie Deutschland oder Österreich, die komplett von anderen EU-Ländern umgeben sind, müssten nach diesem System gar keine Asylverfahren durchführen.

Das System bröckelt aber: Seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2011 darf kein Flüchtling mehr nach Griechenland abgeschoben werden, weil die Bedingungen für Flüchtlinge dort untragbar sind. Italien und Griechenland, wo die meisten Flüchtlinge europäischen Boden betreten, halten schon seit längerem Asylbewerber, die weiterreisen wollen, nicht mehr auf. Offenbar hat Ungarn nun beschlossen, es ihnen gleichzutun.

Die meisten Flüchtlinge wiederum versuchen, die Registrierung in Ländern wie Ungarn zu vermeiden und sich etwa bis Deutschland oder Großbritannien durchzuschlagen. Wurden sie zuvor nicht registriert, wissen die Behörden dort nicht, wohin sie zurückgeschickt werden müssten.

Viele Experten und Hilfsorganisationen kritisieren das Dublin-Abkommen seit langem als unfair. Sie fordern, dass die Asylbewerber stattdessen über eine Quote auf die verschiedenen EU-Länder aufgeteilt werden - ein solches System regelt innerhalb Deutschlands, welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnimmt. Auch die deutsche Regierung hat sich, allerdings erst vor kurzem, dieser Forderung angeschlossen.

Wie hat Österreich auf die Flüchtlinge aus Ungarn reagiert?

Viele Züge hatten am Montag mehrstündige Verspätungen, weil die Österreichischen Bundesbahnen sie in Hegyeshalom an der ungarisch-österreichischen Grenze wegen Überfüllung aufhielten. Ein Teil der Passagiere musste für die Weiterfahrt nach Wien in Regionalzüge umsteigen. Die Polizei in Wien kündigte an, dass jene Flüchtlinge, die bereits in Ungarn Asyl beantragt hatten, nicht nach Österreich weiterfahren dürften.

In Wien und an den Bahnhöfen entlang der Strecke nach München warteten freiwillige Helfer mit großen Mengen Wasser und Essen auf die Züge, um die Flüchtlinge zu versorgen.

Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann von der sozialdemokratischen SPÖ kritisierte Ungarn im Sommerinterview mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ORF: "Es ist unverantwortlich, Dublin nicht wahrzunehmen im Sinne, die Registrierung einfach auszusetzen", sagte er: "Dass die in Budapest einfach einsteigen (...) und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren - das ist doch keine Politik."

Gibt es einen Zusammenhang mit den 71 Toten im Lkw?

Zumindest indirekt gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ansturm auf die Züge und der Tragödie auf der A4 in Österreich. Wenn die Polizei die Flüchtlinge nicht in die Züge steigen lässt oder sie an der Grenze aus den Zügen holt, können die Flüchtlinge die Grenze nur heimlich überqueren.

Je dichter die Grenzen sind, desto stärker sind die Menschen auch innerhalb der EU auf Schlepper angewiesen; die Schlepper können dann für die Fahrt mehr Geld verlangen, und die Flüchtlinge sind gezwungen, sich auf schlechtere Reisebedingungen einzulassen. Dürften Flüchtlinge legal von einem Land in ein anderes reisen, wäre den Schleppern die Geschäftsgrundlage entzogen.

Welche Rolle spielt das Schengener Abkommen?

Das Schengener Abkommen erleichtert seit 1995 Bürgerinnen und Bürgern der meisten EU-Länder und einiger anderer europäischer Staaten das Reisen. Sie müssen normalerweise an den gemeinsamen Grenzen weder Personalausweis noch Reisepass vorzeigen.

Während innerhalb des Schengen-Raums die Personenkontrollen abgebaut wurden, werden die Außengrenzen stärker gesichert. Polizei und Justiz der Schengen-Länder arbeiten zusammen, seit 2005 werden sie auch von der EU-Grenzschutzagentur Frontex unterstützt. In Ungarn rechtfertigt die Regierung die Errichtung eines riesigen Stacheldrahtzaunes an der Grenze zu Serbien damit, dass das Land so auch die Außengrenze des Schengen-Raumes vor illegalen Grenzübertritten schütze.

Innerhalb des Schengen-Raumes können Grenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt werden, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährdet wäre. Deutschland etwa hat das zuletzt während des G7-Gipfels im bayerischen Elmau Anfang Juni getan. Außerdem kann die Bundespolizei stichprobenartige Kontrollen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität vornehmen. An Flughäfen und Bahnhöfen überprüft sie zudem die Papiere von Passagieren, um unerlaubte Einreisen - auch von Flüchtlingen - zu verhindern. Wer sich nicht als EU-Bürgerin oder EU-Bürger ausweisen kann und auch nicht über ein sogenanntes Schengen-Visum verfügt, darf die Grenze nicht übertreten.

Angesichts der wachsenden Zahlen von Menschen, die in die EU flüchten, finden die Kontrollen nun wieder in größerem Stil statt, wie etwa in Rosenheim, wo Hunderte Flüchtlinge aus Zügen aus Österreich geholt wurden. Den Vorgaben des Schengen-Abkommens entspricht dies eigentlich nicht.

Österreich kontrolliert seit Sonntag als Reaktion auf den Tod von 71 Flüchtlingen verstärkt Lastwagen und Kleinbusse, die die ungarische Grenze passieren. Nach Polizeiangaben wurden dabei bisher zwölf Schlepper festgenommen, in Ungarn führte die Aktion zu kilometerlangen Staus.

Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge argumentierte die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner von der konservativen ÖVP, die Aktion verstoße nicht gegen das Schengen-Abkommen, weil es sich nicht um klassische Grenzkontrollen handle, bei denen Menschen ihren Ausweis vorweisen müssten.

Angesichts der Entwicklung warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bereits, Schengen könnte scheitern, wenn die Probleme nicht bewältigt würden. Auch wenn die deutsche Regierung nach eigenen Angaben an dem Abkommen festhalten will.

Wie geht es jetzt weiter?

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat angekündigt, die aus Budapest angekommenden Flüchtlinge nicht nach Ungarn zurückzuschicken. Sie würden in Bayern registriert und in Aufnahmeeinrichtungen gebracht, sagte Herrmann im ZDF-"Morgenmagazin".

Ein Sprecher des Ministers forderte allerdings der dpa zufolge Ungarn auf, "seinen Verpflichtungen zur Registrierung nach dem Dublin-Abkommen nachzukommen".

Die ungarischen Behörden wiederum haben am Dienstagvormittag den Ostbahnhof für zwei Stunden komplett gesperrt. Danach wurde er wieder geöffnet, allerdings kontrolliert die Polizei nun die Eingänge zum Bahnhof und weist alle Flüchtlinge ab.

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