Als der Krieg Damaskus erreicht, schlägt Walid sich auf der Straße durch. Dann stirbt der Vater, plötzlich muss er für die Mutter und drei Schwestern sorgen. Der Freundeskreis zerfällt, es kommt zu Verhaftungen, viele gehen oder arrangieren sich mit der Obrigkeit. Im September 2015 geht auch Karim Walid. Den Namen Angela Merkel hat er da noch nie gehört. Er will nach Norwegen, ertrinkt fast in der Ägäis, friert sich durch kroatische Berge, landet in einer Berliner Turnhalle. Geschafft, denkt er. Aber so ist es nicht.
Für Tausende beginnt damals eine Odyssee durch die deutsche Bürokratie. Woche um Woche stehen sie in verstopften Behörden, kämpfen mit fehlerhaften Bescheiden, einem überforderten Staat.
Auch Ghayth Nashed, der heute die Cateringfirma hat, bahnt sich damals einen Weg durch Berlin. Vor der Flucht hat er als Vertriebsberater in Saudi-Arabien gearbeitet, dorthin war er schon 2010 geflohen, weil er nicht in Assads Armee dienen wollte. Als er aufbricht nach Europa, kann er Englisch, hat einen Uniabschluss in Betriebswirtschaft. Er packt zwei GPS-Handys ein und ein paar Tausend Euro. "Ich habe gelernt, dass man mit einer guten Vorbereitung auch in schwierigen Situationen ruhig bleiben kann", sagt er. Ein Flüchtling ist das, der mit leichterem Gepäck reist als die vielen, die sich mittellos und traumatisiert auf den Weg machen.
Zahlreiche Bundesbürger meldeten sich freiwillig, um Flüchtlingen zu helfen: Erstaufnahme-Einrichtung des Deutschen Roten Kreuzes in Dresden Anfang Dezember 2015.
(Foto: Oliver Killig/dpa)Und das Glück bleibt an seiner Seite. In Berlin muss Nashed nicht in eine Massenunterkunft, sondern wohnt bei seinem Cousin. Er beginnt, ein Netzwerk zu knüpfen, nimmt Kontakt auf zu Flüchtlingsorganisationen, die ihm mit der Bürokratie ebenso helfen wie mit seiner Idee von einer eigenen Firma. Er will Deutsch lernen, aber kein Mitleid. "Ich wollte auf Augenhöhe sprechen", sagt er. "Und ich wollte kein Gast sein. Ich wollte mit den Menschen hier zusammenleben und bleiben."
Auf der Bank in Neukölln dreht Karim Walid seine nächste Zigarette, bevor er zum schwierigeren Teil seiner Geschichte kommt. Auch er kann Englisch und findet damals schnell Freunde, arbeitet für die Flüchtlingshilfe. Er verliebt sich in eine Deutsche, sie verlässt ihren Freund, er zieht zu ihr, lernt Deutsch und ein unbekümmertes Leben in Freiheit kennen. Was er nicht bemerkt: dass sein Ballast schwerer ist, als er meint - und seine deutschen Freunde besser trainiert sind im Umgang mit Alkohol und Drogen. An Wochenenden nehmen sie ihn mit zu Festivals, in der Woche lernt er fürs Studienkolleg, damit er an die Uni darf. Seine Freundin bemerkt, dass er Albträume hat und von Ängsten gejagt wird. Sie fragt sich, was passiert ist damals, bevor Walid ausriss von zu Hause, mit vierzehn.
2018 kommt dann der Uni-Bescheid, man bedaure. Betriebswirtschaft könne er vorerst nicht studieren. "Da bin ich in einer tiefen Depression gelandet", sagt er. "Ich habe viel zu viel gekifft und zu viel Koks genommen." Speed, Ecstasy - Walid dröhnt sich zu, hört auf zu essen, redet wirres Zeug. Er verschwindet tagelang, Freunde befürchten einen Suizid. Ein Jahr geht das so, rein in die Klinik, raus aus der Klinik, wieder Drogen, dann Obdachlosenheim. "Ich war selber schuld", sagt er.
Einer von drei Geflüchteten gilt als psychisch stark belastet, so eine Untersuchung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Psychologen fordern mehr Therapieplätze für Menschen, die nach der Flucht zwar physisch fit, aber psychisch angeschlagen sind. Es fehlt aber nicht nur an Geld. Zuzugeben, dass man Hilfe braucht, ist gerade für geflüchtete Männer oft eine Riesenhürde.
Vor allem, wenn andere Weltenwanderer so viel schneller vorankommen. Ghayth Nashed, der mit dem Imbisswagen, hantiert inzwischen mit Begriffen wie "Konzeptentwicklung", "Dachmarke", "Businessplan". Geschafft? "Ich wusste nicht, wie schwierig es sein würde auf praktischem Niveau", sagt er.
Und Karim Walid? "Ich bin stolz", sagt er. Irgendwie hat er sich aufgerappelt. Seit zehn Monaten lebt er ohne Drogen, hat Arbeit gefunden, ein Fernstudium begonnen. Sein Zuhause ist jetzt ein blitzordentliches Zimmer bei einem Freund, jedenfalls vorerst. Auf dem Schreibtisch steht ein etwas abgekämpfter Strauß Rosen.