Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in der Westukraine:Im Existenzkampf

Tausende Krimtataren und Ostukrainer sind vor Krieg und Besatzung geflohen. Manche haben versucht, sich im Westen des Landes ein neues Leben aufzubauen. Doch die Kiewer Regierung ist auf die Neuankömmlinge schlecht vorbereitet.

Von Frank Nienhuysen, Lwiw

Dutzende Bratpfannen sind an die Wand gemalt, aber das war nicht seine Idee. Schewket Jusbaschew hat alles so übernommen, die Bratpfannen an der Wand, acht hellbraune Tische, die Lampen mit Korbschirmen, die eingetöpferten Grünpflanzen am Fenster. Nichts in dem Café deutet auf seine Herkunft hin, auf die ukrainische Sonnenhalbinsel Krim, auf Feodosia. Von dort ist er geflüchtet. Es war nicht die Zeit, um wählerisch zu sein beim Interieur, um dem Raum eine persönliche, eine tatarische Note zu geben. Außer bei der Speisekarte natürlich.

Aishe, so heißt Jusbaschews Frau, und nun auch sein Café im Zentrum von Lwiw (Lemberg), im Westen der Ukraine. Hier fühlt er sich noch nicht zu Hause, aber hier hat er immerhin Bekannte, die ihm helfen beim Schritt in ein neues Leben. Auf der Krim hatte er auch ein Café-Restaurant, doch dass sich die Zeiten ändern könnten, dieses eigenartige Gefühl beschlich ihn schon vor fast einem Jahr, als auf dem Maidan in Kiew die Proteste in der Ukraine begannen, und damit auch die Spannungen.

Tausende muslimische Tataren sind von der Krim geflohen

"Ich ahnte, dass irgendwann auch die Krim betroffen sein würde", sagt er. Im März eskalierte die Lage. In Feodosia stürmten russische Soldaten die Militärbasis. Jusbaschew, 44 Jahre alt, drei Kinder, entschied mit seiner Familie, die Krim zu verlassen. "Wir fuhren den ganzen Weg mit dem Zug, wie Touristen", sagt er. Aber das waren sie natürlich nicht. "30 Tage arbeite ich seitdem im Monat, ich lebe, und ich arbeite, das ist das Wichtigste." Geld hatte er kaum. "Die Kreditkarten von der Bank auf der Krim waren blockiert, und vom Staat habe ich bis jetzt keine Hrywna bekommen, keine einzige", sagt er.

Seit der Annexion der ukrainischen Halbinsel durch Russland haben Tausende muslimische Tataren die Krim verlassen, viele von ihnen sind gleich in den Westen des Landes geflüchtet. Dann kamen die Flüchtlinge aus dem Osten hinzu, aus den umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk. Lwiw ist etwa tausend Kilometer von dem Konflikt entfernt. Jusbaschew war früher immer wieder mal in der Stadt. Es ist in der Regel das persönliche Netzwerk, das den Flüchtlingen hilft. Vom Staat rollt die Hilfe erst an.

Ausgaben von bis zu 3000 Dollar werden den Flüchtlingen erstattet

Ein kleiner Innenhof in Lwiw, ein unscheinbarer Eingang zwischen einem Irish Pub und einem ukrainischen Restaurant, ohne Hinweisschild an der Tür - das ist für viele Flüchtlinge die erste Anlaufstelle. Krim-SOS heißt die nicht-staatliche Organisation, doch nur um die Krim allein geht es schon lange nicht mehr. Acht Mitarbeiter kümmern sich um die Flüchtlinge, die nun vor allem aus der Ostukraine stammen und in dem kargen Raum von einem Bild mit Wald und einer großen Ukraine-Karte begrüßt werden. Und von Anna Krawtschenko. "Noch immer kommen jeden Tag Neue zu uns", sagt die Sozialarbeiterin. Sie erhalten psychologische und juristische Hilfe, dazu werden Ausgaben von bis zu 3000 Dollar für Handwerker, Medizin oder Lebensmittel erstattet.

Der Staat gibt 482 Hrywna (24 Euro), und bis zu 2000 (100 Euro), wenn es um eine Familie mit Kindern geht. "Der Staat fängt jetzt erst damit an, das Geld auch auszuzahlen, er war auf die Flüchtlinge einfach nicht vorbereitet", sagt Krawtschenko. "Aber in welchem Land ist der Staat schon auf so etwas vorbereitet?"

Die ersten Flüchtlinge sind schon wieder zurückgegangen. In den Osten der Ukraine, nach Kramatorsk etwa, nach Slawjansk, in Städte, die die ukrainische Armee von den prorussischen Separatisten zurückerobert hat.

Furcht vor dem Ungewissen

Lwiw ist eine westlich geprägte, europäische Stadt. Das EU-Land Polen ist zum Greifen nah, und doch: "Hier im Oblast, im Lwiwer Gebiet, ist es schwierig, eine Arbeitsstelle zu erhalten, und damit auch, eine Wohnung bezahlen zu können, die Familie zu ernähren", sagt Krawtschenko. "Einige kommen bei Bekannten unter, andere leben beengt in einem umfunktionierten Hotel oder in Wohnheimen." Auch die Sprachkurse sind gut gefüllt. Englisch gibt es dienstags und donnerstags, Ukrainisch am Mittwoch und am Sonntag. Auf der Krim braucht man Ukrainisch nicht, aber in Lwiw schon.

Nina Peletska kann alle diese drei Sprachen, sie ist Lehrerin für Englisch, und sie sitzt nun am kleinen Tisch im Großraumwagen eines Zuges, der von Lwiw in die Hauptstadt Kiew fährt. Aber das ist nicht ihr Ziel. Sie will weiter. Nach Luhansk, in ihre Heimatstadt, die sie vor ein paar Monaten verlassen hat. Peletska wirkt ruhig, nachdenklich, und doch angespannt. Sie fürchtet sich vor dem Ungewissen, vor den Kontrollen, und davor, wie es zu Hause aussieht. Viele Illusionen macht sie sich nicht. Deshalb war sie ja weggegangen von dort, mit ihrer Tochter. Seit dem Sommer leben auch sie in Lwiw, aber sie braucht noch ein paar Dokumente, und die will sie jetzt holen. "Ein, zwei Tage höchstens, dann fahre ich auch schon wieder zurück", sagt sie.

Guter Blick auf die Kämpfe

Nicht dass sie in Lwiw Verwandte oder enge Freunde gehabt hätte. Peletska wollte nur einfach möglichst weit weg von den Kämpfen, von den Separatisten, die mit Kalaschnikows in die Schule kamen, weil sie dort ein Referendum abhalten wollten. "Von Lwiw aus ist es bis Polen ja nicht weit", sagt sie. "Und Kiew: Wer weiß schon, ob sie sich das nicht auch noch holen wollen?" Im 12. Stock lag ihre Wohnung in Luhansk. Sie hatte einen guten Blick auf die Kämpfe, und sie sagt, "ich habe gesehen, wie Separatisten, nachdem sie die Kaserne erobert hatten, mit Raketen auf Hubschrauber schossen. Das war der Moment, als ich gehen wollte."

In Lwiw schlägt sie sich jetzt als Repetitorin für Englisch durch. Ukrainische Freunde in Kanada haben ihr geholfen, eine Wohnung zu bekommen. Auf den Staat hat sie nicht gesetzt. "Die meisten sind dorthin geflüchtet, wo es sicher ist und sie irgendjemanden kennen. Ganz gleich, wo im Land." Nina Peletska hat sich den Ort selber gewählt, und sie hat wenig Zweifel, dass es für sehr lange sein wird.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2014/anri
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