Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Calais:Richtung Tunnel, jede Nacht

Tausende Flüchtlinge sind im nordfranzösischen Calais gestrandet. Jeden Abend machen sich einige Hundert auf den Weg zum Eurotunnel, in Richtung Zukunft. Nicht alle kommen zurück.

Von Paul Munzinger, Calais

Um 17 Uhr gibt es Abendessen im Dschungel. Danach sitzen manche am Lagerfeuer zusammen, einige spielen Fußball mit bunten Plastikbällen, andere streunen ziellos zwischen den Zelten umher, schütteln hier eine Hand, bleiben dort auf eine Zigarette stehen. Und einige Hundert Menschen machen sich jeden Abend auf den Weg Richtung Tunnel.

3000 Flüchtlinge wohnen am Rand der französischen Küstenstadt Calais in einer Zeltstadt, für die sich der Name "The Jungle" etabliert hat: Der Dschungel ist ein Meer aus Zelten und selbstgebauten Hütten aus Holz und Plastik. Die Flüchtlinge kommen aus dem Sudan und Eritrea, aus Afghanistan und Äthiopien, aus Nigeria und Syrien. Sie alle haben keine Papiere, kein Asyl, keine Rechte. Und sie alle haben ähnliche Geschichten zu erzählen: von Not, Folter, von Gewalt in der Heimat. Die Flucht über Libyen, das Mittelmeer, durch Italien, Griechenland, Frankreich. Ankunft in Calais, Ankunft im Dschungel. Für viele soll die Reise hier nicht enden, sie wollen weiter - durch den Tunnel, nach Großbritannien.

Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei

Seit Wochen versuchen immer wieder Flüchtlinge zum Eurotunnel vorzudringen, um an Bord von Güterzügen oder Lastwagen ans andere Ufer des Ärmelkanals zu gelangen. Frankreich und Großbritannien haben die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Seitdem liefern sich die Flüchtlinge Nacht für Nacht ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei.

Zunächst geht es für die Wagemutigen an den Bahngleisen entlang, immer in Richtung Tunnel. Vergangene Nacht erwischte die Polizei etwa 200 Menschen auf einer Brücke, kreiste die Männer ein. Etwa 15 Flüchtlinge, die den Beamten entkommen waren, wurden etwa Hundert Meter weiter von anderen Polizisten gestoppt.

"Das Risiko hält sie nicht auf"

Mindestens neun Flüchtlinge aus dem Dschungel haben den Versuch, illegal nach Großbritannien zu gelangen, seit Anfang Juni mit dem Leben bezahlt. Hilfsorganisationen sprechen von zwölf Toten. Das letzte Opfer war ein Sudanese. Er starb in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Er wollte auf einen fahrenden Zug aufspringen, auf dem Weg erfasste ihn ein Lkw. Warum riskieren die Flüchtlinge von Calais ihr Leben für eine Zukunft in England, die nicht weniger ungewiss ist als in Frankreich?

"Das sind Menschen, die in ihrer Heimat Folter und Gewalt erlebt haben", sagt Marie Chevelle, die für die Hilfsorganisation Ärzte der Welt in Calais arbeitet. "Wenn sie nach Calais kommen, sagen sie sich: Jetzt gehe ich auch noch den nächsten Schritt, so riskant er auch sein mag. Das Risiko hält sie nicht auf."

Jeden Morgen kurz nach Sonnenaufgang kehren die Flüchtlinge, die es nicht in den Tunnel geschafft haben, zurück in den Dschungel. Eine Karawane müder, enttäuschter Menschen. Tagsüber schlafen sie. Damit sie es in der nächsten Nacht wieder probieren können.

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