Süddeutsche Zeitung

Aufnahme von Geflüchteten:"Lassen Sie uns nicht im Regen stehen!"

Mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge leben inzwischen in Deutschland. Auch aus anderen Ländern steigen die Flüchtlingszahlen. Kommunen fühlen sich überfordert, der Streit um die Kosten wird schärfer.

Von Markus Balser, Berlin

Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister schrieben schon fast in entschuldigendem Ton an die "sehr geehrte Frau Ministerin" Nancy Faeser. So ein Brief sei ja schon ein "ungewöhnlicher Schritt". Auf sieben Seiten fassten sie dann aber Ende September unmissverständlich ihren Frust zusammen. Man schöpfe alle Möglichkeiten aus, zu helfen. Aber die Kommunen seien inzwischen selbst in einer "äußerst prekären Situation", klagen die 23 Gemeindeoberhäupter und ihr Landrat aus dem baden-württembergischen Kreis Rastatt.

Vor allem die große Zahl an ukrainischen Geflüchteten belaste die Kommunen und deren Ausländerbehörden. Die Wohnraumkapazität und weitere Betreuungsangebote seien schlichtweg erschöpft. Dennoch würden immer mehr Menschen kommen. "Die kommunale Familie steht mit dem Rücken an der Wand, wir befinden uns an einem gefährlichen Kipppunkt", schreiben die Kommunen. Am Ende der sieben Seiten bleibt nur ein Appell: "Bitte lassen Sie uns nicht im Regen stehen, wir zählen auf Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung!"

So wie im Kreis Rastatt sieht es vielerorts im Land aus. Immer mehr Kommunen stoßen an die Grenzen ihrer Aufnahmemöglichkeiten. Dabei rechnet die Regierung mit weiter steigenden Zahlen in den nächsten Monaten. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums hat die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine Ende September mit exakt erfassten 1 001 867 Personen erneut die Millionenmarke überschritten. Über den Winter könnten es sogar noch deutlich mehr werden - je nach Kriegsverlauf und Versorgungslage in der Ukraine. Zudem steigen die Zahlen der Flüchtenden aus anderen Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan oder der Türkei derzeit deutlich an - etwa über die Balkanroute. Und nun könnten auch noch immer mehr Russen hier Schutz suchen, die nicht in der Ukraine in den Krieg ziehen wollen.

Nicht nur in Baden-Württemberg fragen sich Bürgermeister, wie das klappen soll, wo doch Wohnraum schon jetzt an allen Ecken fehlt, mal abgesehen von Integrationspersonal. "Wer vor dem Krieg in der Ukraine zu uns flüchtet, braucht unsere Hilfe", stellt Markus Lewe klar, der Präsident des Deutschen Städtetags und Oberbürgermeister von Münster. "Aber wir brauchen mehr Koordination von Bund und Ländern bei der Verteilung der Schutzsuchenden", sagt Lewe. Vor allem bräuchten die Kommunen mehr Geld. "Bund und Länder" müssten die Hilfe "endlich vollständig finanzieren und, wie im April zugesagt", fordert Lewe "ihre Mittel den hohen Flüchtlingszahlen anpassen".

Doch der Bund stellt sich genau dabei bislang quer. "Es gibt Aufgaben, die werden nach dem Grundgesetz von den Ländern übernommen, etwa die Frage, wie Flüchtlinge untergebracht werden", sagt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). "Hier muss man schon daran erinnern, dass es diese Aufteilung zwischen Bund und Ländern gibt." Die Verhandlungen am Dienstag brachten zunächst keinen Durchbruch. Mit der Übernahme von Kosten in Höhe von zwei Milliarden Euro springt der Bund in diesem Jahr ein. Doch die Länder gehen davon aus, dass das nicht reicht. Sie fordern zudem ähnliche Großzügigkeit auch im nächsten Jahr. "Grenznahe Bundesländer werden den Flüchtlingszustrom in Kürze nur noch durch provisorische Erstunterbringungen bewältigen können", sagt Sachsens Innenminister Armin Schuster. Er erwarte eine konkrete finanzielle Unterstützung seitens des Bundes für bisher nicht gedeckte Kosten des Jahres 2022 und auch für 2023. "Wenn jetzt der Winter kommt, wenn Kälte und Nässe in die zerstörten Häuser in der Ukraine eindringen, dann werden weitere Menschen zu uns kommen", sagt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Nun müsse Klarheit bei der Finanzierung her.

"Die Zitrone ist ausgepresst", warnen Bürgermeister aus Baden-Württemberg

Innenministerin Faeser deutet immerhin ein Entgegenkommen des Bundes an: "Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger ist es, so viele Geflüchtete gut unterzubringen und zu versorgen." Man stehe eng an der Seite der Kommunen. Die Städte aber fordern eine schnelle Einigung. "Der Bund darf sich finanziell nicht wegducken, etwa beim Lebensunterhalt oder den Gesundheitskosten", fordert Verbandschef Lewe. "Denn das können wir allein in den Städten nicht stemmen."

Zumal die Zahlen weiter steigen. "Neben der großen Fluchtbewegung aus der Ukraine kommen auch über das Mittelmeer und die Balkanroute wieder mehr Menschen nach Europa", sagt Innenministerin Faeser. "Das macht mir Sorge." Für den 11. Oktober kündigt sie nun einen Flüchtlingsgipfel in Berlin an.

Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Baden-Württemberg wollen endlich mehr als warme Worte. "Dem Eindruck, dass die Städte und Gemeinden jammern und es am Ende doch irgendwie hinbekommen, treten wir entschieden entgegen", warnen sie. Denn: Die "Zitrone ist ausgepresst."

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