Die deutschen Botschaften haben 2024 wohl etwas weniger Visa für den Familiennachzug ausgestellt als noch im Jahr zuvor. Nach vorläufigen Zahlen des Auswärtigen Amtes bekamen im vergangenen Jahr bis zum 3. Dezember etwa 115 000 Menschen aus visumspflichtigen Ländern die Erlaubnis, zu ihren Angehörigen nach Deutschland ziehen zu dürfen. Hochgerechnet ist das ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Im Gesamtjahr 2023 hatten die Botschaften knapp 131 000 solcher Visa zum Zwecke des Familiennachzugs ausgegeben, so viele wie nie zuvor in einem Jahr.
Die Zahlen, mit denen die Bundesregierung eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger beantwortete und die der Süddeutschen Zeitung vorliegen, belegen aber auch: Anders, als es der CDU-Bundestagsabgeordnete und Ex-Minister Jens Spahn kürzlich in einem Interview mit der Tageszeitung Münchner Merkur glauben machen wollte, hat nur ein kleiner Teil dieses Familiennachzugs mit Fluchtmigration zu tun. Nur knapp 20 000 der Visa gingen demnach bis Anfang Dezember 2024 an Angehörige von Geflüchteten. Im Jahr davor waren es 22 000. Zum Vergleich: 2023 und 2024 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jeweils mehr als 110 000 Asylsuchende als schutzberechtigt anerkannt.
Jens Spahn will den Nachzug „komplett“ streichen
Den größten Teil des Familiennachzugs machten Angehörige von Menschen aus, die regulär in Deutschland leben, ohne dorthin geflüchtet zu sein. Dazu gehörten beispielsweise 16 500 nicht aus der EU stammende Ehefrauen und -männer von Deutschen oder Partnerinnen, Partner und Kinder von Ausländerinnen und Ausländern, die hier arbeiten oder studieren. Nachzugsvisa gab es etwa für 18 000 Syrerinnen und Syrer, aber nur 13 000 davon, um sie mit bereits in Deutschland als Flüchtlinge anerkannten Familienmitgliedern zu vereinigen, die übrigen 5000 sind Angehörige von Nicht-Flüchtlingen. Aus Afghanistan erhielten nur 2300 Menschen solche Visa, davon 1000 Angehörige von Geflüchteten.
Einen Anspruch darauf, dass ihnen Frau, Mann oder Kinder nachziehen dürfen, haben unter den Geflüchteten nur Asylberechtigte und diejenigen, die nach den Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention Schutz in Deutschland bekamen. Die Erlaubnis, ihnen nachzuziehen, erhielten 2024 knapp 9000 Angehörige. Etwas mehr als 11 000 Angehörige ließ die Bundesregierung Flüchtlingen nachziehen, die wegen Krieg oder grassierender unmenschlicher Behandlung in ihrem Heimatland einen sogenannten subsidiären Schutzstatus erhielten. Mehr durften nicht kommen, weil Deutschland die Visavergabe an Familienmitglieder dieser subsidiär Schutzberechtigten gesetzlich auf 1000 im Monat begrenzt hat.
Auch wenn der Christdemokrat Spahn im Interview auf Nachfrage betont hat, er wolle den Familiennachzug „komplett“ streichen – in der heftigen Wahlkampfdebatte um das Thema geht es laut den Wahlprogrammen nur um diese monatlich 1000 nach Deutschland ziehenden Angehörigen der subsidiär Schutzberechtigten. CDU und CSU, die FDP und auch die AfD wollen diesen das Recht auf Nachzug ihrer Familien streichen, SPD und Grüne wollen es erhalten.
Syrer warten länger als ein Jahr auf Konsulatstermine
Knapp 5000 der Nachzugsberechtigten im vergangenen Jahr waren Eltern, davon etwa 1400 aus Syrien und 130 aus Afghanistan. Ihre Väter oder Mütter nachholen dürfen unter den Geflüchteten in der Regel nur Minderjährige. Erwachsene Flüchtlinge können nur Ehegatten und minderjährige Kinder nachholen. Zum Problem wird das für ältere Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind, etwa um rechtzeitig dem drohenden Einzug ins Militär eines Bürgerkriegslands zu entgehen. Denn die Eltern von Jugendlichen mit subsidiärem Schutzstatus dürfen nur nach Deutschland kommen, wenn sie vor dem 18. Geburtstag ihres Kindes einreisen.
Doch das schaffen die meisten wegen der langen Visaverfahrensdauern nicht. Syrer etwa müssen länger als ein Jahr auf einen Termin in einem Konsulat in einem der umliegenden Länder warten. Dazu kommt, dass die Botschaft im libanesischen Beirut wegen der Lage im Land derzeit keine Visaanträge annimmt. Seit November vergeben die Visavergabestellen auf Weisung aus Berlin auch keine Sondertermine für die Angehörigen von älteren Jugendlichen mehr, weil „dies die Wartezeit anderer Antragstellenden verlängern“ würde, wie das Auswärtige Amt schreibt.
Dies würde dann auch auf Kosten von besonders schutzwürdigen geflüchteten Kindern bis zu 14 Jahren gehen. Die Linken-Abgeordnete Bünger wirft der Grünen-Außenministerin Annalena Baerbock vor, durch bürokratische Hindernisse Flüchtlingsfamilien zu spalten. Diese Politik sei „kalt und inhuman“.