Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Es geht ums nackte Überleben

Lesezeit: 4 min

Patrick Kingsley hat eine große Reportage über Flüchtlinge geschrieben. Der Sonderreporter des "Guardian" geht der Frage nach: Warum machen sich Hunderttausende auf den Weg?

Rezension von Robert Probst

Ein Buch über die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, in dem Bundeskanzlerin Angela Merkel nur am Rande vorkommt. Ein Buch, das die vielen ergebnislosen Beratungen der EU-Staaten über eine sinnvolle Verteilung der Migranten in nur wenigen Zeilen erwähnt.

Ein Buch, das über die riesigen logistischen Probleme bei der Registrierung, Unterbringung und Integration von Hunderttausenden in Europa nichts berichtet. Keine "Wir-schaffen-das"-Exegese, kein Jean-Claude Juncker, kein Victor Orbán, kein Recep Tayyip Erdoğan, keine Betrachtung der Zusammenhänge von Zuwanderung und populistischen Parolen. Ja, geht denn das, muss da natürlich die Frage sein, im Angesicht dieses Jahrhundertthemas.

Die klare Antwort: Ja, das geht sogar sehr gut. Warum: Weil das Buch den Fokus richtet auf die, die da übers Meer oder über die Balkanroute nach Europa kommen.

Was treibt diese Menschen an?

Bei Patrick Kingsleys "Die neue Odyssee" geht es nicht um Politik, Logistik und Bürokratie - es geht ums nackte Überleben. Es geht nicht um die Ängste und Vorbehalte derer, die die Flüchtlinge - oft widerwillig - aufnehmen. Es geht um das Leben derer, die sich auf den Weg gemacht haben über Tausende Kilometer, die oft Tausende Euro für Schlepper bezahlt haben und die sich in seeuntüchtigen Kähnen übers Mittelmeer wagen. Was treibt diese Menschen an?

Patrick Kingsley, Journalist des britischen Guardian, ist in zweifacher Hinsicht ein außergewöhnlicher Autor. Zum einen ist er 27 Jahre alt, was ihn vielleicht abenteuerlustiger, aber vor allem empathischer berichten lässt als so manchen "alten Hasen". Und er hatte die Freiheit und das Budget als Sonderkorrespondent des Guardian, sich das ganze Jahr über in 17 Ländern auf drei Kontinenten mit den zahllosen Facetten der Migrationsproblematik auseinanderzusetzen.

Das Buch ist aus den zahllosen Reportagen (bis Dezember 2015) von Kingsley zusammengesetzt, und trotzdem gelingt es dem Werk aufgrund seines raffinierten Aufbaus, schnell einen Sog zu entwickeln, der die Leser in seinen Bann zieht.

Dazu hätte man auch nicht mit dem sowieso eher unpassenden Bild der Odyssee werben müssen - es wird im Text dann auch nur am Rande mit Homer argumentiert - und das Buch ist auch keine "Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise", wie der Untertitel suggeriert. Vielmehr ist es die Geschichte eines mutigen Reporters, der den Fluchtursachen auf den Grund gehen will und der an Orte reist, in die sich nicht allzu viele westliche Journalisten trauen. Dabei kommt er einigen Menschen sehr nahe, näher, als es normalerweise Reportern gelingt.

Erfreulich ist in dem Zusammenhang der Umgang damit; seine Hauptperson - einen Syrer namens Hashem, den er immer wieder auf seinem Weg von Ägypten bis nach Schweden begleitet - bezeichnet Kingsley offen als Freund. Und er beschreibt das Dilemma: An einem Grenzübergang hätte der Reporter dem illegalen Zuwanderer helfen können. Und er zeigt auf, welch "lächerliches Privileg" es doch ist, seinem Protagonisten hinterherzufliegen, nachdem dieser unfassbare Risiken auf dem Mittelmeer auf sich genommen hat.

Schlepper, die reich geworden sind

Kingsley versucht, sich selbst ein Bild zu machen - er reist nach Niger, von wo aus sich die westafrikanischen Migranten aufmachen, erst durchs todbringende "Wüstenmeer" nach Libyen, wo dann mit viel Glück die nächste todesgefährliche Fahrt übers Mittelmeer bevorsteht.

Er trifft sich mit Schleppern, die auf Facebook Werbung schalten und reich geworden sind, die sich für tüchtige Geschäftsleute halten und früher vielleicht selbst Flüchtling gewesen sind. Er ist mit Ärzte ohne Grenzen auf dem Meer unterwegs und besucht Europas Grenzschutzagentur Frontex.

Er vollzieht nach, wie ein Facebook-Reiseführer ("The safe and free route to asylum for Syrians") Tausenden via GPS-Signal den Weg von Athen nach Ungarn wies. Er berichtet von den rostigen Kähnen, die übers Meer tuckern, voll mit Menschen in Todesangst, eingepfercht wie Vieh, die Kleidung bedeckt mit Erbrochenem. Von den Hunderten, die ertrunken sind.

Vor allem aber spricht er auf seinen Reisen mit den Migranten, mit Helfern und mit Profiteuren der Krise. Er fragt sie nach ihrem Leben, ihren Hoffnungen, ihren Ängsten. Und für ihn wird klar: Da machen sich Menschen auf den Weg, für die zu fliehen es sehr, sehr gute Gründe gibt. Man wird auf berührende Weise vertraut gemacht mit den Schicksalen und Geschichten von Familien, die eine bessere, oft überhaupt eine Zukunft suchen.

Das sind Menschen, die man auf Dauer nicht mit konventionellen Grenzschutzmechanismen wird aufhalten können - auch wenn die Balkanroute mittlerweile geschlossen ist und die Türkei syrische Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr nach Griechenland übersetzen lässt.

In der Begegnung mit den Menschen liegt die Stärke dieses Reportage-Buches. Besonders wohltuend ist dies auch deswegen, weil in Deutschland ja lange und auch mit Recht darüber diskutiert wurde, ob und wie das Land es "schafft", die Zuwanderungsprobleme zu bewältigen.

"Der weiße Mann ist ohne Visum in Afrika angekommen"

Das Schicksal der Migranten geriet da doch immer mehr aus dem Fokus - und wenn doch, dann wurde es immer im Zusammenhang mit Sicherheitsfragen oder IS-Terror erörtert. Und manch einer hofft vielleicht sogar, dass mit dem EU-Türkei-Deal und immer mehr Grenzzäunen an den Außengrenzen das Problem so gut wie gelöst sein könnte.

Patrick Kingsley hat ein großes, beeindruckendes Mosaik von Fluchtgeschichten zusammengetragen, fein beobachtet und geschickt miteinander verbunden. Zum Schluss freilich versucht sich auch der Reporter im ganz großen Blick auf die Krise. Aus seiner Sicht haben die meisten Menschen, die ihr Leben auf Spiel setzen, um nach Europa zu kommen, schlicht keine andere Wahl. Sie haben nichts mehr zu verlieren, und darum werden sie auch weiterhin kommen. Und darum plädiert er für ein "geordnetes, planvolles System der Massenmigration".

Wie das aussehen könnte, sagt er nicht - und man merkt nicht nur an dieser Stelle: Die große Politik ist seine Sache nicht.

Doch das Große findet sich ja auch im Kleinen. "Der weiße Mann ist ohne Visum in Afrika angekommen", sagt ein Flüchtling aus Kamerun dem Reporter, anspielend auf die Zeit der Kolonisation des Kontinents. Und er fährt fort: "Und wir haben vom weißen Mann gelernt, wie man reist."

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Quelle:
SZ vom 05.09.2016
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