Flüchtlingspolitik:Wie Berlin über die Lage an der griechisch-türkischen Grenze denkt

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Der türkische Präsident Erdoğan trage die Debatte über mehr Hilfe von der Europäischen Union „auf dem Rücken von Flüchtlingen“ aus, sagte Angela Merkel am Montag in Berlin. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Krise von 2015 dürfe sich nicht wiederholen, darin sind sich die Parteien einig. Aber was heißt das jetzt konkret?

Von Markus Balser, Stefan Braun, Constanze von Bullion, Nico Fried, Boris Herrmann, Mike Szymanski, Berlin

Als Angela Merkel und Horst Seehofer sich am Montag im Kanzleramt begegneten, verweigerte der Innenminister der Regierungschefin den Händedruck. Da stellte sich kurz die Frage: Ist es schon wieder so weit? Gibt es einmal mehr ein Zerwürfnis zwischen Merkel und Seehofer über die Flüchtlingspolitik, so wie zuletzt 2018, als einige Tage lang sogar die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU auf dem Spiel stand? Einstweilen kann Entwarnung gegeben werden. Seehofer schüttelt schon seit einigen Tagen wegen der Verbreitung des Coronavirus keine Hände mehr - und macht auch für die Kanzlerin keine Ausnahme.

Was Merkel später zur Lage an der türkisch-griechischen Grenze zu sagen hatte, dürfte durchaus die Zustimmung Seehofers finden. Mal ganz abgesehen davon, dass er seit Monaten vor einer neuen Flüchtlingskrise warnt. Merkel zeigte Verständnis für die zusätzlichen Belastungen der Türkei durch weitere Flüchtlinge, die wegen des Krieges aus Syrien ins Land drängen. "Ich verstehe, dass die Türkei gerade vor einer großen Aufgabe mit Blick auf Idlib steht", sagte sie. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fühle sich "derzeit nicht ausreichend unterstützt". Dennoch finde sie es "inakzeptabel", dass Erdoğan die Debatte über mehr Hilfe von der Europäischen Union "auf dem Rücken von Flüchtlingen" austrage. Sie will am Abkommen der EU mit der Türkei festhalten. Auf die Frage, ob eine Grenzöffnung für sie eine denkbare Option sei, ging sie gar nicht ein. Für sie sei es "eine Option, mit der Türkei zu sprechen", um wieder zum alten Zustand zurückzukehren. Anders hätte das Seehofer auch nicht gesagt.

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Die CDU befindet sich ohnehin im Krisenmodus, eine neue Flüchtlingskrise träfe sie im denkbar schlechtesten Moment. Denn bei diesem belasteten Thema vertreten Armin Laschet und Friedrich Merz, die beiden Hauptkontrahenten in dem ohnehin komplizierten Wettstreit um den Parteivorsitz, ganz unterschiedliche Schulen. Laschet verteidigt im Großen und Ganzen Merkels damaligen Kurs, Merz vertritt vor allem bei der Frage, ob man als Ultima Ratio auch die Grenze streng kontrollieren müsse, eine andere Linie.

Angesichts dessen kann es kaum verwundern, dass von Laschet am Montag zunächst wenig zu hören war, während Merz schon zur Frühstückszeit eine klare Botschaft aussendete. Im MDR forderte er ein "Signal an die Flüchtlinge". Ihnen müsse man klar sagen und zeigen, dass es für sie "keinen Sinn hat, nach Deutschland zu kommen". Die Botschaft müsse sein: "Wir können euch hier nicht aufnehmen." Merz fasste das in eine breitere Argumentation ein. Was derzeit an der türkisch-griechischen Grenze geschehe, sei "zunächst einmal eine große humanitäre Katastrophe". Die Bundesrepublik solle helfen, "vielleicht auch mehr helfen, als sie es bisher getan hat". Aber Merz weiß natürlich, dass eine ähnliche Zuspitzung der Krise wie 2015 seinem internen Konkurrenten Laschet besonders wehtun dürfte.

Auch die Grünen werden zu rhetorischen Anstrengungen gezwungen

Was damals geschah, das darf 2020 nicht noch einmal passieren. Da sind sich fast alle einig im Berliner Regierungsviertel. Allerdings gibt es unterschiedliche Lesarten dessen, was genau sich nicht wiederholen dürfe. Deutlich wird das auch am Beispiel der Grünen. Auch sie zwingt die aktuelle Lage zu rhetorischen Anstrengungen. Einerseits sieht die Partei sich als Wahrerin humanitärer Grundsätze. Andererseits haben grüne Spitzenpolitiker wie Robert Habeck immer wieder deutlich gemacht, dass ungebremste Masseneinwanderung - etwa im Fall einer Klimakatastrophe - demokratische Systeme überfordern könnte.

Am Montag trug Annalena Baerbock in Berlin also ein beherztes Einerseits-andererseits vor. Die Grünen-Chefin, die am Wochenende auch gefordert hatte, Deutschland müsse Kapazitäten in Flüchtlingsunterkünften aktivieren, betonte nun immer wieder Ordnung und Humanität - ein Zweiklang, den man bisher vor allem von Horst Seehofer kannte. Die EU-Grenze dürfe nicht unkontrolliert geöffnet werden, sagte Baerbock. Gleichzeitig seien aber mehr "Kontrolle und eine Registrierung" nötig. Dies gehe nicht ohne geöffnete Kontrollposten an der Grenze.

Aber auch die Versprechen der EU müssten jetzt eingelöst werden, sowohl bei der Zahlung von Hilfsgeld als auch bei der Übernahme von Kontingenten Geflüchteter. Deutschland habe zugesagt, aus Griechenland 27 000 Menschen aufzunehmen, bei 10 000 Personen aber habe man gestoppt. Dies müsse nachgeholt werden.

Wie schwer sich auch die SPD mit dieser Krise tut, zeigte der Auftritt der Co-Vorsitzenden Saskia Esken nach der Sitzung der Parteigremien. Von sich aus kam Esken gar nicht auf das Thema zu sprechen. Dabei hatte es in den Sitzungen viel Gesprächsbedarf gegeben. Die Lage für Flüchtlinge etwa auf Lesbos ist seit Jahren so, dass sich viele Sozialdemokraten dafür schämen, wie Europa an seinen Außengrenzen mit ihnen umgeht. Esken nennt die Zustände an den Stacheldrähten vor Griechenland unverantwortlich. Sie benennt aber Erdoğan als Verantwortlichen für diese Situation. Das EU-Türkei-Abkommen müsse eingehalten werden, und Grenzübertritte dürften "wenn, dann allenfalls kontrolliert", zugelassen werden.

Die SPD fordert die Aufnahme von unbegleiteten Kindern

Esken will am Sonntag im Koalitionsausschuss durchsetzen, dass Deutschland unbegleitete Kinder aus den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln auf-nimmt. Diese Kinder "lebten in großer Angst und Not". Es geht um schätzungsweise 500 bis 1000 Kinder im Alter bis 14 Jahre. Esken geht davon aus, dass da nicht alle EU-Länder mitmachen, deshalb müsse eine solche Aktion notfalls von einer "Solidarität der wenigen" getragen werden.

Die AfD, deren Spitze nach der rechten Gewalt von Hanau vor einer Woche selbst noch zur Mäßigung aufgerufen hatte, verschärfte die Diskussion um die Migration postwendend wieder. Parteichef Jörg Meuthen forderte, dass Deutschland seine Grenzen für Migranten schließt. "Griechenland und Bulgarien müssen von uns volle finanzielle und logistische Unterstützung für den erforderlichen robusten Außengrenzenschutz erhalten", schrieb er auf Facebook. Als "zweiter Sperrriegel" müssten "Schutzvorkehrungen" an den deutschen Grenzen getroffen werden. Hinter der martialischen Wortwahl steckt das Kalkül von Teilen der AfD-Führung, dass die Partei in einer neuen Debatte um offene Grenzen ihre zuletzt schwachen Wahlergebnisse wieder verbessern kann.

© SZ vom 03.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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