Flüchtlingspolitik:Deutschland muss seine Interessen neu justieren

Ankunft von Flüchtlingen am Bahnhof München

Willkommenskultur in München: Flüchtlinge werden im September 2015 am Hauptbahnhof begrüßt.

(Foto: dpa)

Die Krisen der Welt haben Deutschland mit den Flüchtlingen erreicht - und selbst zum Krisenland gemacht. Alleingelassen in Europa lernt die Nation eine bittere Lektion: Sie hat ihre Kräfte überschätzt.

Kommentar von Stefan Kornelius

Zwei Jahre ist es her, dass die politische Klasse vom Bundespräsidenten an abwärts über die Rolle Deutschlands in der Welt und seine Interessen philosophierte. Gesucht wurden die Ziele, die Deutschland mit seiner Außenpolitik anstreben sollte: Frieden stiften, Europa einen, Konflikte in der Nachbarschaft moderieren. Alles sehr theoretisch, alles wunderbar.

Was in dieser abstrakten Debatte nicht geklärt werden konnte, war ein praktisches Problem: Wie viel Härte bringt diese Gesellschaft auf, wenn sie ihre Interessen durchsetzen will oder diese Interessen gar angegriffen werden? Wie weit also würde der Staat gehen, wenn er die Rechte eines Menschen oder eines anderen Landes einschränken will, wenn er abhört, sanktioniert - oder gar einen Flüchtling an seiner Grenze abweisen muss? Dieser Gewissenskonflikt hat sich jetzt noch einmal verschärft. Nun geht es um den inneren Frieden, der verteidigt und bewahrt werden will.

Es geht um die schwierige Balance zwischen Hilfsbereitschaft und notwendiger Härte. Und deswegen geht es um nicht weniger als den moralischen Kompass des Landes. Mit Befremden beobachtet Europa, wie Deutschland mit seinem Selbstverständnis ringt, wie politische Extreme aufpoppen wie Eiterbeulen, wie Wohlwollen und Härte urplötzlich die Klinge kreuzen. Wo also ist das Maß? Wo ist die Mitte? Welches Interesse verfolgt Deutschland in eigener Sache?

Die Krisen der Welt haben Deutschland erreicht - und plötzlich selbst zum Krisenland gemacht. Die Flüchtlings- und Migrationswelle hat die Idee vom in sich ruhenden, stabilen Zentrum Europas zerstört und bei Deutschlands Nachbarn die alte Sorge vor dem unberechenbaren Kantonisten in ihrer Mitte wiederbelebt. Nirgendwo spiegelt sich diese eruptive Selbstsuche stärker als im Umgang der Deutschen mit ihrer politischen Galionsfigur, der Bundeskanzlerin.

Während Angela Merkel im Ausland und zuletzt im Dezember auf dem Titel des Time-Magazins als "Ueber-Frau" gefeiert wird, riskiert sie hierzulande ihr Gefolge und wird von der Schwesterpartei in geradezu grotesker Selbstbeschädigung gedemütigt. Dann erlaubt ihr die Nation ein Comeback zu Weihnachten, und ihre Partei ergeht sich in Huldigungen, um Wochen später erneut die Grube auszuheben, in die sie Merkel zu versenken gedenkt.

Deutschland hat sich und seine Nachbarn überfordert

All dies erzeugt außerhalb Deutschlands Irritationen: Hier ist ein Land, das tatsächlich mächtig und einflussreich die Geschicke Europas steuert, von dem das Wohlergehen so vieler anderer Nationen abhängt, das vorbildliche Zensuren in den Fächern Geschichte, Ökonomie und Soziales abräumt. Da ist aber auch ein Staat, der scheinbar ohnmächtig die Demontage seines Gewaltmonopols hinnimmt, der seine eigene Kraft nicht einzuschätzen vermag und vor allem die Kräfte seiner Nachbarn falsch kalkuliert.

Was die Kanzlerin und viele andere Deutsche an der Flüchtlingskrise unterschätzt haben, war die Wucht dieser unterschiedlichen Interessen. Da mag Merkel noch so viel Rationalität im Umgang mit der globalisierten Welt und den Flüchtlingsströmen einfordern: Deutschland ist überfordert, Europa ist überfordert.

Im Land prallen aufeinander: Die Vorstellung von einem Deutschland, das die Dimension dieser Exodus-Tragödie zu meistern und seine moralische Verpflichtung zu verstehen glaubt. Dagegen steht: Die Furcht vor einer Überforderung, und das Gefühl, dass man es zu weit getrieben habe mit dem Wohlwollen und nun ausgenutzt werde. Und weil das beileibe nicht reicht zur Beschreibung des Desasters, potenziert sich das Interessenswirrwarr auf der europäischen Bühne, wo kaum eine Nation bereit ist, diese Fluchtbewegung als Naturkatastrophe hinzunehmen oder die Merkel'sche Rationalität zu teilen.

Ein Schutzreflex greift: abwarten, abschotten, abwehren. Die massiven Stimmungsschwankungen der Deutschen haben bei den Nachbarn Konfusion erzeugt und ein paar simple Fragen aufgeworfen: Warum sollen wir eure Probleme teilen, wenn ihr euren eigenen Idealismus von Randalierern mit Feuerwerksraketen zerschießen lasst? Oder: Warum sollen wir uns eurer Führung anvertrauen, wenn ihr dem Missbrauch eurer Freiheit im eigenen Land einfach so zuseht? Dies ist das Dilemma vieler Deutschen: Sie wollen Gutes tun für die Welt und sind perplex, wenn sie ausgenutzt, ja kritisiert werden. Sie fordern europäische Gefolgschaft, aber überschätzen die eigenen wie die fremden Kräfte.

Die wichtigste Lektion aus dieser Krise ist also, dass Absichten und Fähigkeiten nicht länger im Einklang stehen. Deutschland wird seine Interessen neu justieren müssen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: