Flüchtlinge:Die Flüchtlingskrise macht Pause

Ängste der Deutschen

Im vergangenen Jahr waren solche Bilder wie hier in Wegscheid in Bayern fast alltäglich. Doch mittlerweile kommen immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland.

(Foto: dpa)
  • In Berlin soll ein "Analysezentrum" der Internationalen Organisation für Migration (IOM) eingerichtet werden.
  • Dort sollen "verlässliche Daten" an einem Ort zusammen gefasst werden, um Fluchtbewegungen und deren Ursachen analysieren und schneller auf sie reagieren zu können.
  • Hochrangige Vertreter verschiedener Hilfsorganisationen kritisierten Staaten heftig, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen.

Von Stefan Braun

Der Schreck steckt den Regierenden noch immer in den Knochen. Zu groß war die Überraschung, zu offensichtlich das erste Unvermögen und zu heftig die Kritik, als im vergangenen Jahr binnen Wochen Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Am Ende blieb der Eindruck, die Bundesregierung habe viel zu lange gebraucht, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Die Flüchtlingskrise ist ein dramatischer Einschnitt gewesen.

Aus diesem Grund soll jetzt alles anders werden. Es soll kein Wegschauen, Abwarten und Verdrängen mehr geben. Berlin verspricht, sich umfassend um dieses Thema zu kümmern. Das jedenfalls ist die Botschaft, die Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Dienstag versenden möchte. Zum zweiten Mal hat er die Chefs der wichtigsten internationalen Flüchtlingsorganisationen nach Berlin eingeladen. Und damit die nicht nur sagen, wie groß das Problem ist und wie wichtig die weltweite Hilfsbereitschaft, hat Berlin beschlossen, seinen Einsatz mit der Schaffung einer neuen Institution zu belegen.

So soll in Berlin ein "Analysezentrum" der Internationalen Organisation für Migration (IOM) eingerichtet werden. Man wolle "verlässliche Daten" an einem Ort zusammenfassen, um Fluchtbewegungen und deren Ursachen analysieren und schneller auf sie reagieren zu können. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, die Weltbank, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), das Internationale Rote Kreuz oder die IOM sollen ihre Arbeit auf Basis der gleichen Informationen bündeln. "Wir sind im Kampf gegen diese Krise nicht kurz vor dem Ziel", sagte Steinmeier, "unsere Aufgabe wird immer größer."

Wie groß sie ist, bringen auf eine ganz eigene Art die Vertreter der verschiedenen Hilfsorganisationen zum Ausdruck. Sie haben es längst aufgegeben, ihren Zorn über die Unfähigkeit und die Unwilligkeit vieler Staaten noch hinter freundlichen Worten zu verbergen. Der Generaldirektor der IOM, William Swing, erklärte, bei dieser Katastrophe mit weltweit 65 Millionen Menschen auf der Flucht solle man nicht von einer Flüchtlingskrise sprechen. Hier handele es sich um eine Krise von Politikern und Regierungen, die jede Form von Haltung, Anstand und Verantwortung verraten hätten.

Hilfsbedürftige würden zu Menschen mit großen Fähigkeiten

Peter Sutherland, der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Migration, ein besonders zorniger alter Herr, schimpfte, auch die Medien in vielen Ländern hätten versagt, weil sie eher Populisten, Nationalisten und Fremdenfeinden Raum verschafft hätten statt den Flüchtlingen ein Gesicht zu geben. Und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, betonte, man müsse eigentlich von Glück sprechen, dass Europa im letzten Jahr in den Fokus der Flüchtlinge geraten sei. Erst dadurch sei klar geworden, dass dieses Problem ein globales sei, das global gelöst werden müsse.

Grandi immerhin sieht auch Positives. So würden Staaten wie Deutschland vermehrt auf mehr Bildung für Flüchtlinge setzen. Das habe mehrere Vorteile. Es befähige diese, nach Rückkehr in die Heimat beim Wiederaufbau zu helfen. Und es helfe, ihr Image zu verändern - aus Hilfsbedürftigen würden Menschen, die große Fähigkeiten mitbringen. Auch deshalb kündigten bei dem Treffen in Berlin alle an, weiteres Geld in Bildung zu stecken.

Die Bundesregierung will damit das eigene Engagement von der eigenen Betroffenheit bewusst entkoppeln. Die aktuellen Flüchtlingszahlen in Deutschland jedenfalls sind so gering geworden, dass man fast glauben könnte, der größte Ansturm sei überwunden. So sind laut Statistik der Bundespolizei im ersten Halbjahr noch 112 000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Im Vorjahr waren es zum gleichen Zeitpunkt schon dreimal so viele.

200 000 Flüchtlinge hält sogar Seehofer für akzeptabel

Noch deutlicher werden die Zahlen, wenn man die Monate Mai, Juni und Juli betrachtet: im Mai waren es nach Zählung der Bundespolizei gut 3500, im Juni 3900 und in den ersten zehn Tagen im Juli 1140. Das macht im Tagesdurchschnitt im Mai 115, im Juni 130 und im Juli 114. Sollte es so bleiben, würden 2016 gerade mal 200 000 Menschen kommen. Das entspräche jener Zahl, die selbst Kritiker wie der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer für akzeptabel halten. Zumal dann, wenn man hinzunimmt, dass bis Juli gut 14 000 Flüchtlinge Deutschland wieder verlassen haben.

Von langfristiger Entwarnung spricht in Berlin trotzdem niemand. Und das liegt an der Tatsache, dass nach Einschätzung aller Experten die Lage rund ums Mittelmeer "volatil" bleibt. Dabei sind auch dort die Zahlen derzeit nicht dramatisch in Bewegung. So kamen in der ersten Juliwoche gerade einmal 258 Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland. Und auf der zweiten großen Mittelmeerroute von Libyen aus erreichten im gleichen Zeitraum knapp 10 000 Menschen Italien. Seit Jahresbeginn sind es auf diesem Weg 77 000 gewesen. Das entspricht präzise den Zahlen aus dem Vorjahr - und zeigt, dass diese Route, anders als vorhergesagt, bislang nicht zur Ausweichroute für Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan wurde.

Sorgen bereiten den Experten der Bundesregierung deshalb andere Entwicklungen. So wächst seit Wochen die Zahl junger Menschen, die sich von Ägypten aus Richtung Italien aufmachten. In der letzten Juni-Woche waren es knapp 300, Tendenz steigend. Außerdem warten in den Staaten Nordafrikas Hunderttausende auf die Gelegenheit, es übers Meer nach Europa zu schaffen. Steinmeier und seine Gäste kündigten deshalb an, dort mit Aufklärungskampagnen gegen falsche Hoffnungen vorzugehen. Bislang, so heißt es, sind sie damit jedoch nur wenig erfolgreich gewesen.

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