Flüchtlingspolitik:"Was wir erleben, ist eine kontrollierte Eskalation"

Flüchtlingspolitik: Hinter dem Zaun des Filakio-Flüchtlingslagers auf der griechischen Seite der Grenze.

Hinter dem Zaun des Filakio-Flüchtlingslagers auf der griechischen Seite der Grenze.

(Foto: Sakis Mitrolidis/AFP)

Die Türkei öffnet ihre Grenze für Flüchtlinge: Politikwissenschafter Raphael Bossong erklärt, was die EU und Deutschland jetzt tun sollten - und wie eine langfristige Lösung aussehen könnte.

Interview von Lilith Volkert

Seit vergangenem Wochenende ringen die EU-Länder verstärkt mit der Frage, wie sie mit Migranten und Flüchtlingen umgehen sollen, die sich in Griechenland und der Türkei aufhalten. Politikwissenschaftler Raphael Bossong forscht an der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zur Migrations- und Asylpolitik.

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SZ: Der türkische Präsident Erdoğan hat am Wochenende die Grenze zu Griechenland öffnen lassen, Zehntausende Migranten hoffen auf Einlass. Was muss die Europäische Union jetzt tun?

Raphael Bossong: Auf jeden Fall mehr als Griechenland nur beim Grenzschutz zu helfen. Die Kommission hat angekündigt, das Land mit Personal, Material und Geld zu unterstützen. Die Aufnahmelager und Asylverfahren vor Ort müssten endlich verbessert werden. Die EU, das heißt auch andere Mitgliedsstaaten, sollte außerdem einen Teil der Menschen aufnehmen. Nicht die Neuankömmlinge, sondern Personen, die schon seit Monaten auf den Inseln ausharren und bereits erfasst sind. Damit würde man die Lage im Land entschärfen und gleichzeitig eine größere "Sogwirkung" auf nachkommende Migranten vermeiden.

Griechenland selbst verfolgt einen harten Kurs und will den ganzen März über keine neuen Asylanträge annehmen.

Das hebelt geltendes Recht aus und darf nicht unwidersprochen bleiben. Die EU hat sich in dieser Frage bisher zu bedeckt gehalten. Wir sollten keineswegs aktive Beihilfe zur Aussetzung des Asylrechts leisten. Und ganz allgemein: Zu versuchen, die Situation durch reine Härte oder Aussitzen zu lösen, wäre fatal.

Deutschland hat 2015 im Alleingang viele Flüchtlinge aufgenommen. Kann das Land nun wieder die Initiative ergreifen, auf die Gefahr hin, Partnerländer erneut vor den Kopf zu stoßen?

Ich finde, ja. Deutschlands "moralischer Zeigefinger" von 2015 belastet zwar das Verhältnis zu einigen Ländern. Doch erklären wir uns jetzt als Erste bereit, einige Flüchtlinge aufzunehmen, werden sich zumindest einige Staaten anschließen. Schließlich wissen alle, dass sich das Problem nicht von alleine erledigen, sondern mit der Zeit eher verschärfen wird.

Wie sollte die EU mit der Türkei umgehen, nachdem diese den Flüchtlingspakt von 2016 gebrochen hat?

Der sogenannte Flüchtlingspakt ist kein rechtlich bindender Vertrag, sondern eine politische Absichtserklärung. Das Gesamtpaket der EU-Türkei-Erklärung konnte ohnehin nie umgesetzt werden. Es wäre aber gut, pragmatisch die Absprachen zur humanitären Hilfe zu retten sowie die damit verbundene Grenzsicherung durch die Türkei.

Ist das realistisch?

Dafür spricht: Was wir gerade erleben, ist noch eine kontrollierte Eskalation. Die Zuspitzung findet nur an wenigen kleineren Grenzübergängen statt. Für mich ist das ein Zeichen, dass Erdoğan weiterhin verhandeln möchte. Ein erstes finanzielles Angebot der EU hat er zwar abgelehnt, er wolle vielmehr europäische Unterstützung für seine Syrienpolitik. Ob er dabei bleibt, ist offen. Erdoğan ist letztlich ebenso auf die EU angewiesen. Somit bleibt Hoffnung, weitaus Schlimmeres zu verhindern.

Neben dem aktuellen Krisenmanagement braucht es eine langfristige Lösung. Wie könnte die aussehen?

Die EU-Kommission will im März ihren "neuen Migrationspakt" vorstellen. Nach meinen Informationen soll die Zuständigkeit für Asylfragen an die Außengrenzen verlagert werden. In großen Zentren soll innerhalb weniger Wochen entschieden werden, wer eine realistische Chance auf Anerkennung hat. Diese Menschen sollen dann über die Mitgliedsstaaten verteilt werden und dort ihren Asylantrag stellen. Schwer zu sagen, ob das funktionieren wird. Ich sehe allerdings gerade keine bessere Alternative. Mindestens ebenso wichtig wie schwierig ist, dass die EU endlich zu einer entschiedenen Außenpolitik findet. Eine glaubwürdige Schutzzone in Nordsyrien, die europäischen und nicht nur türkischen Vorstellungen entspricht, wäre zentral.

Von Juli an hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Welche Möglichkeiten, welche Verpflichtungen verbinden sich damit?

Die Erwartungen an Deutschland sind riesig. Auch wenn in dem halben Jahr nicht alle Probleme angegangen oder gar gelöst werden können: In vielen Bereichen müssen Reformen angeschoben werden, nicht nur in der Flüchtlingspolitik. Wenn das Deutschland nicht gelingt, dann weiß ich auch nicht, wer es schaffen soll.

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