Flüchtlinge:Das passiert, wenn der EU-Türkei-Deal platzt

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Migranten auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland. Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals kommen deutlich weniger von ihnen. (Foto: dpa)

Schon jetzt hat das Abkommen vor allem eine psychologische Wirkung. Kündigt die Türkei die Vereinbarung auf, müssen schnell neue Antworten her.

Analyse von Thorsten Denkler, Berlin

Noch immer erreichen Flüchtlinge Europa, indem sie vom türkischen Festland aus über die Ägäis auf eine der griechischen Inseln übersetzen. In der letzten Juliwoche waren es nach Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 495 Menschen. Im ganzen Monat Juli waren es 1293. Sie machen sich auf den Weg, trotz der verbarrikadierten Grenze zwischen Griechenland und seinen Nachbarstaaten, um zumindest einen Fuß auf den Boden der Europäischen Union zu bekommen.

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Der Deal setze Rechtsstaatlichkeit voraus, und die sei in der Türkei derzeit nicht gegeben, sagt Bärbel Kofler. Sie fordert ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik.

Es sind allerdings wenige im Vergleich zu den fast 67 500 Personen, die noch im Januar den lebensgefährlichen Schlauchboot-Trip auf sich nahmen. Manche sagen, das sei eine Folge des EU-Türkei-Deals. Andere glauben, die Grenzschließungen auf der Balkanroute hätten den Rückgang verursacht. Beides dürfte zu dem Rückgang der Zahlen beigetragen haben.

Der EU-Türkei-Deal ist allerdings jetzt in Gefahr. Der türkische Außenminister hat in dieser Woche die EU ziemlich unverhohlen gewarnt: Wenn bis Ende Oktober die Visafreiheit für türkische Staatsbürger nicht umgesetzt wird, dann könnte der Deal platzen.

Die EU beharrt darauf, dass die Türkei erst einen Katalog von 72 Bedingungen erfüllen müsse, bevor die Visafreiheit greifen könne. Einen Großteil der Bedingungen hatte die Türkei bis vor wenigen Wochen auch umgesetzt.

Dann aber kam der Putschversuch türkischer Soldaten. Seit dem rollt eine beispiellose Verhaftungswelle über das Land, die schwere Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Türkei ausgelöst hat. Es scheint undenkbar, der türkischen Regierung in dieser Situation zu erlauben, ihren Bürgern die Visafreiheit als Erfolg der eigenen Politik zu präsentieren. Kritiker wie die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD), und Linken-Parteichef Bernd Riexinger haben sich jetzt deutlich gegen den Deal ausgesprochen.

Die Botschaft ist klar - und angekommen

Wenn das Abkommen aber platzt, werden sich dann wieder zehntausende Flüchtlinge aus der Türkei auf den Weg nach Europa machen? Derzeit ist die Botschaft an die mehr als drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei ja klar: Der irreguläre Weg in die EU ist so gut wie aussichtslos. Wer per Schlauchboot den Strand einer griechischen Insel zu erreichen versucht, riskiert sein Leben - und muss dann damit rechnen, zurückgeschickt zu werden. Das viele Geld, dass Schlepper den Flüchtenden abknöpfen, hätten sie vergeblich bezahlt. Für die allermeisten ist das ein zu hoher Preis. Diese Botschaft ist der psychologische Kern des Deals. Und obwohl Griechenland seit seinem Inkrafttreten bis Ende Juli lediglich 498 Menschen zurückgeschickt hat - seit dem 16. Juni sogar überhaupt niemand mehr - wirkt sie.

Griechenland als Sackgasse

Es spricht allerdings auch nicht viel dafür, dass sich die Situation in Mittel- und Nordeuropa nach einem Ende des EU-Türkei-Abkommens dramatisch ändern würde. Die meisten Flüchtlinge geben als Ziele zwar diese Regionen an. Ganz vorne liegen Deutschland und Schweden. Vor allem, weil dort schon Verwandte und Freunde leben. Es hat sich aber herumgesprochen, dass der Landweg dorthin versperrt und Griechenland für die meisten zur Sackgasse geworden ist, seit Bulgarien und vor allem Mazedonien die Grenzen abgeriegelt und damit die Balkanroute dichtgemacht haben. Dass diese Route wieder geöffnet werden könnte, steht wohl nicht zur Debatte.

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Vor allem die osteuropäischen Länder sind gegen Grenzöffnungen. Aber auch in Deutschland und Österreich sind viele Politiker durchaus froh, dass die Flüchtlinge in der Türkei und Griechenland feststecken und die innenpolitischen Probleme, die die Flüchtlinge schon verursacht haben, nicht noch weiter zunehmen. In Österreich steht eine Bundespräsidenten-Wahl an, der Kandidat der Rechtspopulisten könnte im zweiten Anlauf die Wahl doch noch gewinnen. Und in Deutschland soll die AfD nicht länger Profit aus der Flüchtlingsfrage schlagen können. Die Debatten haben sich tatsächlich etwas beruhigt, seit kaum noch Flüchtende ankommen. So soll es aus Sicht der anderen Parteien doch bitteschön bleiben.

Zunehmen dürfte die Zahl der Flüchtlinge, die sich nach Griechenland aufmachen, aber schon. Dann wäre die EU gefordert, Griechenland mit den Problemen nicht alleine zu lassen. Den Flüchtenden müsste ein legaler Weg eröffnet werden, damit nicht noch mehr ertrinken, und sie müssten besser verteilt werden. Das erscheint allerdings utopisch. Die EU ist zu zerstritten, um sich hier auf eine Lösung zu einigen.

Für die Flüchtenden in der Türkei und Griechenland, die unbedingt nach Mittel- und Nordeuropa wollen, gibt es deshalb derzeit nur einen Ausweg: Sie müssen höhere Risiken eingehen. Das neue Zwischenziel heißt Italien.

Einige versuchen bereits jetzt per Boot von Griechenland oder direkt von der Türkei aus nach Italien zu gelangen. Seit dem EU-Türkei-Deal ist die Zahl der Flüchtlinge, die dies monatlich versuchen, auf fast das Doppelte gestiegen. Im April waren es noch rund 9000 Menschen. Dann stieg die Zahl auf mehr als 19.000. Mittlerweile kommen fast so viele wie Mitte 2015.

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Die See-Routen nach Italien sind länger und weitaus gefährlicher als die vergleichsweise kurzen Strecken über die Ägäis. Dort ertranken noch im Januar 89 Menschen. Seit dem 20. März sind sieben Todesopfer zu beklagen. Auf allen Mittelmer-Routen-zusammen ertranken dagegen über 3100 Personen.

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