Süddeutsche Zeitung

Situation an den Grenzen:EU will Migration über Belarus stoppen

Während Tausende an der Grenze zu Polen ausharren, lässt Kommissionspräsidentin von der Leyen Sanktionen gegen Airlines prüfen, die Flüchtlinge nach Minsk fliegen. Polen und Litauen verstärken Militär an den Grenzen.

Von Andrea Bachstein und Josef Kelnberger, München/Brüssel

Die dramatische Situation Tausender vom belarussischen Regime zu den EU-Grenzen mit Polen und Litauen geschleuster Flüchtlinge und Migranten alarmiert die Politik in Deutschland und in der EU. Polen schloss am Dienstag den Grenzübergang Kuźnica, Litauens Regierung verhängte im Grenzgebiet ebenfalls den Ausnahmezustand, wie es Polen bereits getan hat. Beide Länder verstärkten die Militärpräsenz an ihren Grenzen zu Belarus. Polens Premier Mateusz Morawiecki, der mit dem Verteidigungsminister Soldaten im Grenzgebiet besuchte, warnte auf Twitter, Stabilität und Sicherheit der ganzen EU stünden auf dem Spiel: "Der hybride Angriff des Regimes von Lukaschenko zielt auf uns alle."

In der EU ist man sich sicher, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko - seine Wahl zum Präsidenten erkennt die EU nicht an - Menschen aus Krisenregionen einfliegen lässt, um sie als Reaktion auf Sanktionen in die EU zu schleusen. Er hatte Ende Mai angekündigt, sein Land hindere Migranten nicht mehr an der Weiterreise.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen forderte Lukaschenko nun auf, die "zynische Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke" zu beenden. Sie telefonierte mit den Regierungschefs Polens, Litauens und Lettlands, sicherte ihnen Solidarität zu und bot Hilfe an. Von der Leyen sagte auch, man prüfe weitere Sanktionen. Diese könnten Airlines treffen, die am "Menschenhandel" beteiligt seien.

Ein Kommissionssprecher erklärte am Dienstag, man beobachte ein Dutzend Staaten, aus denen Migranten nach Minsk geflogen würden, darunter Russland. Von der Leyens Stellvertreter Margaritis Schinas reist in den nächsten Tagen in Herkunfts- und Transitländer, um sie aufzufordern, nicht zuzulassen, dass die Migranten in Lukaschenkos "Falle" gehen.

Der EU-Rat nahm am Dienstag bereits den Beschluss an, Visaerleichterungen mit Belarus für Amtsträger des Regimes auszusetzen. "Wir verurteilen die laufende Instrumentalisierung der Migration durch das belarussische Regime aufs Schärfste und lehnen sie entschieden ab. Es kann nicht hingenommen werden, dass Belarus für politische Zwecke mit dem Leben von Menschen spielt", sagte Sloweniens Innenminister Aleš Hojs namens des EU-Ratsvorsitzes. Auch die Nato hat sich bereits zu Wort gemeldet und Belarus gewarnt, Flüchtlinge gegen das westliche Militärbündnis zu instrumentalisieren. Die Allianz stehe bereit, die Verbündeten zu unterstützen.

Am Montag hatte sich die Lage an der belarussisch-polnischen Grenze zugespitzt, als nach Angaben polnischer Behörden größere Gruppen von Migranten nahe Kuźnica Grenzzäune zu durchbrechen versuchten. Polnische Sicherheitskräfte wehrten sie unter Einsatz von Tränengas ab.

Dem polnischen Regierungssprecher zufolge befinden sich nun auf belarussischer Seite 3000 bis 4000 Migranten. Sie harren unter freiem Himmel ohne Versorgung bei Minustemperaturen aus. Der Sprecher von Polens Geheimdienstkoordinator, Stanisław Żaryn, twitterte, die Migrantengruppe stehe unter Kontrolle bewaffneter belarussischer Einheiten, "die entscheiden, wohin sie gehen darf und wohin nicht".

Der geschäftsführende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) rief bereits am Montag die EU auf, Europa müsse Polen bei der Grenzsicherung unterstützen. Alle EU-Staaten müssten zusammenstehen, weil der belarussische Staatschef "mit Unterstützung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin die Menschenschicksale benutzt, um den Westen zu destabilisieren", sagt er der Bild-Zeitung. Am Dienstag twitterte Seehofers Sprecher, der Minister habe gesagt: "Es ist eine ganz fiese politische Methode, die man auf jeden Fall unterbinden muss. Wir nennen das hybride Bedrohung, wo Menschen benutzt werden, um die EU und besonders Deutschland zu destabilisieren - das darf sich nicht durchsetzen auf der Welt!"

Polnischen Schätzungen zufolge halten sich insgesamt bis zu 10 000 Migranten in Belarus auf, die meisten aus Afghanistan, Irak, Jemen und Syrien. Ein großer Teil will offenbar nach Deutschland gelangen, wo die Bundespolizei dieses Jahr mehr als 8800 Migranten mit Belarus-Bezug festgestellt hat. Die Zahlen stiegen zuletzt stark, bis Juli waren nur 30 solcher Fälle gezählt worden. Polen gibt an, etwa 30 000 Menschen hätten versucht, aus Belarus illegal ins Land zu kommen, mehr als die Hälfte davon im Oktober.

In Berlin brachte die Unionsfraktion im Bundestag einen Antrag ein, über den am Donnerstag beraten wird. CDU und CSU fordern die Bundesregierung auf, sich auf europäischer Ebene für Landeverbote und andere Sanktionen gegen Fluggesellschaften einzusetzen, "die Migranten aufgrund der von Belarus missbräuchlich eingeräumten Visafreiheit befördern". Auch sei zu beachten, dass Belarus als "russischer Klientelstaat" solche Entscheidungen nicht alleine treffe. Sollten andere Schritte nicht ausreichen, solle die Regierung Vorkehrungen für Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze treffen. Fraktionschef Ralph Brinkhaus wandte sich per Twitter zudem an die künftigen Regierungsparteien: "Die Ampelparteien müssen zügig einen Plan vorlegen, wie auf die Lage an der Grenze reagiert werden soll."

Der Generalsekretär und designierte Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, sagte der Bild vom Dienstag, es müsse "für die, die da sind", eine humanitäre Lösung gefunden werden in der EU - "diesen Menschen muss geholfen werden". Die EU-Länder müssten aber "dafür sorgen, dass keine neuen Flüchtlinge mehr nachkommen".

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